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RB LeipzigZehn Gegentreffer in zwei Spielen: Wieso eine Rückkehr zur Fünferkette für RB-Trainer Jesse Marsch keine Option ist

Von Martin Henkel 16.09.2021, 11:37

Jesse Marsch hat seinen ersten Rekord mit RB Leipzig aufgestellt. Allerdings keinen, den er gern in seiner Vita stehen hat: Noch nie hat ein RB-Coach in einem Spiel sechs Gegentreffer hinnehmen müssen so wie der US-Amerikaner beim 3:6 in der Champions League bei Manchester City Mittwochabend.

Drei Tage zuvor in der Liga beim Spiel gegen den FC Bayern München waren es vier Gegentore gewesen (1:4). Zehn in zwei Spielen also - und das bei der vergangene Saison defensivstärksten Mannschaft der Bundesliga. What's up, RB?

Änderung vom ersten Tag an

Ist es die falsche Formation, die Leipzigs Defensive plötzlich ins Wanken bringt? Die Viererkette, die Marsch installiert hat? Unter Vorgänger Julian Nagelsmann spielte der Vizemeisters ausnahmslos eine Dreierkette bzw. Fünferkette, die zum Ziel hatte, so wenige Gegentore wie möglich zu kassieren, um selbst nicht zu viele schießen zu müssen. Die meisten Kontrahenten saßen nämlich tief im eigenen Hinterhof.

Marsch hat diesen Ansatz verworfen. Anders als sein Vorgänger, der erst im Verlauf seines ersten Jahres Änderungen am Team vornahm, hat der US-Amerikaner vom ersten Tag an darauf gesetzt, seine Idee von Fußball umzusetzen. Und die bedeutet: Rückkehr zur Viererkette wie in der Vizemeister-Saison 2016/2017, davor zwei Sechser, davor drei Mittelfeldspieler plus einem Stürmer - ein 4-2-3-1 also. So wie RB auch gegen Manchester City spielte.

Marschs Ansatz fußt auf folgenden Ideen: A) Sämtliche Passwege schließen, wenn der Gegner den Ball hat. Heißt: aggressiv, vor allem aber im Verbund pressen. B) Schon anlaufen, wenn der Ball gespielt wird und nicht erst, wenn der Pass ankommt, um die Wege zu verkürzen und Kraft zu sparen. C) Der Ballführende wird wenn möglich mit drei Mann gespresst. D) Sobald RB den Ball gewinnt, laufen die Angreifer Richtung Elfmeterpunkt, um durch unnötige Breite nicht zu lange Zeit für den Konter zu brauchen. Und sie bilden jeweils kleine Rondos bzw. Dreiecke, um sich mit One-Touch-Staffetten durch die gegnerischen Reihen zu spielen.

Ein Marsch-Lehrbuch-Treffer

So viel zur Theorie. Der erste Treffer von Christopher Nkunku resultierte aus so einem Ballgewinn durch das Verkleinern von Räumen und aggressivem Draufgehen. Tyler Adams räuberte den Ball, spielte auf Emil Forsberg, der chippte auf Nordi Mukiele am langen Pfosten, der seinem Landsmann mit der Stirn dessen Kopfstoß auflegte.

Ein Marsch-Lehrbuch-Treffer, der den Ansatz bestätigt, mit dieser Art Fußball selbst bei so großkopferten Gegnern wie Manchester City drei Tore schießen zu können. Die Achillesferse dieser Grundidee zeigt sich aktuell jedoch auch. Wer nicht mitmacht im Pressingverbund, gefährdet das ganze Team. Wer falsch positioniert ist, reißt automatisch Löcher. Wer körperlos spielt, ist beim Gegner-Stressen und Ballklauen nicht zu gebrauchen. Und: die ballferne Zone ist immer offen. Ein Einfallstor für Konter und Gegentreffer.

Lang sind die Wege, diese Zone zu sichern, wenn Diagonalbälle hinter die Pressingreihen fliegen. Oft führt das zu Eins-zu-Eins-Situationen, in denen ein ballferner Verteidiger gegen einen Angreifer steht. Misslingt das Tackling, hat dieser freie Bahn. In einer Viererkette stehen dann die Innenverteidiger zu weit weg oder entblößen beim Herauslaufen das Zentrum. So geschehen vor dem 0:2 gegen die Bayern vergangenes Wochenende, und im Spiel gegen City immer wieder gut zu sehen, wie Kevin de Bryune durch lange Diagonalbälle auf Jack Grealish Leipzigs Pressing zu überspielen versuchte. Wer solche Pässe an den Mann zirkeln kann, ist gegen RB im Vorteil.

Das Gleiche gilt für nervenstarke und ballsichere Teams wie die Bayern, die Leipzigs Gegenpressing komplett ins Leere laufen ließen, weil sie keine Angst haben, wenn die RB-Infanterie herangespurtet kommt. Marsch steht deshalb vor der Frage: Gegen spielstarke Gegner das System ändern? Oder die Mannschaft weiter so schulen, dass ihr Pressing lückenlos und auch gegen Topteams funktioniert.

Jeder muss überzeugt sein

Momentan jedenfalls geht seine Idee nicht auf. Entweder ziehen nicht alle Spieler in der nötigen Intensität mit, sie sind schlecht positioniert, die Talente reichen für sein Rondospiel nicht aus oder - und das gerade vor allem - individuellen Fehler zerstören seine Matchpläne, so wie gegen die Bayern das frühe Handspiel von Kevin Kampl oder wie gegen Man City der fehlende Block gegen Aké vor dem 0:1, das Eigentor von Mukiele zum 0:2, das Handspiel von Klostermann vor dem 1:3 oder das aufgehobene Abseits durch Tyler Adams vor dem 2:4.

Diese Slapsticks haben mit Marschs System nichts zu tun. Doch die Umstellung des Teams nach zwei Jahren Nagelsmann, einer Fünferkette und viel Ballbesitzfußball, hat das Team sichtlich verunsichert. Eine Rückkehr zu diesem System mit drei Innenverteidigern und zwei auf- und abackernden Außenstürmern dürfte trotzdem keine Lösung zu sein, denn sie würde Marschs Ideen von Balleroberung und schnellen Konterspiel grundsätzlich widersprechen. Ein Herumdoktern verbietet sich deshalb. Entweder ganz oder gar nicht.

Das aber bedeutet: Jeder Spieler muss von Marschs Idee überzeugt sein. Das Pressing muss im Schlaf sitzen, das Kurzpasspiel bei Ballgewinn muss funktionieren, es braucht enorme Laufbereitschaft, Körperlichkeit - und zwei Außenverteidiger, die genauso gut verteidigen wie angreifen können, was vor allem gefragt ist, wenn sie als einzige die ballferne Zone beschützen müssen, bis die Kollegen zur Hilfe geeilt sind. Ob das Nordi Mukiele oder Angeliño gerade leisten können, ist die Frage.

Für die RB-Verantwortlichen heißt es also, Marsch Zeit zu geben, bis sein Team an seinen Ansatz glaubt und ihn fehlerfrei umsetzt. Oder auf einen neuen Trainer setzen. Eine Fünferkette unter Marsch dürfte hingegen keine Option sein. (RBlive/hen)