Reportage über ungarns fußball "Cosimo, lass’ uns verschwinden!"
Deutschlands Gruppengegner mit den zwei RB-Profis Willi Orban und Peter Gulacsi spielt seine dritte EM in Serie. Ein Besuch im Land von Ferenc Puskas und Marco Rossi, der Wölfe mag und über die Eintracht aus Frankfurt ungarischer Nationaltrainer wurde.
Budapest/Leipzig - Wer Ferenc Puskas begegnen will, der muss nach Obud, dem ältesten Stadtteil Budapests. Auf einem kleinen Platz zwischen Becsi- und Csemete-Straße jongliert der Altstar des ungarischen Fußballs in Anzug und Krawatte einen Ball auf dem linken Straßenschuh – in Bronze gegossen. Drei Kinder umringen ihn staunend.
Leipziger Säulenspieler Gulacsi und Orban
Es ist sieben Jahrzehnte her, dass die Altvorderen um Puskas, Guyla Grosics, Zoltan Czibor, Sandor Kocsis und Nandor Hidegkuti den Weltfußball beherrschten. In 32 Spielen zwischen 1950 und 1954 blieb diese „Goldene Elf“ damals ungeschlagen. Bis sie im Endspiel der Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz Deutschland 2:3 unterlag.
Kommenden Mittwoch treffen beide Teams im zweiten Gruppenspiel der EM wieder aufeinander, davor starten die Ungarn mit der Partie gegen die Schweiz (Samstag, 15 Uhr). Mit einer Verschiebung der Favoritenrolle: Ungarns Nationalelf geht als der Underdog in die Partie gegen die Nachfahren der Goldelf-Bezwinger.
Wie unscheinbar dieses Team mit den Leipziger Säulenspielern Peter Gulacsi (im Tor) und Abwehrchef Willi Orban sowie dem ehemaligen Kollegen der beiden, Topstar Dominik Szoboszlai (FC Liverpool), freilich auch scheinen mag: Zu Hause sind sie zwar keine Denkmäler wie die Helden der 1950iger Jahre, doch staunende Nachfahren dieses gigantischen Erbes sind sie auch nicht mehr. „Mittlerweile“, sagt Peter Gulacsi bei einem Gespräch in der Akademie von RB Leipzig, „haben wir es geschafft, dass die Vergangenheit nicht mehr so im Vordergrund steht. Die goldene Elf war eine Legende, und wird es immer sein, aber sie ist nicht mehr so präsent.“
Puskas und die "Goldene Elf"
Es ist die vielleicht erstaunlichste Leistung dieses ungarischen Teams, dass die ewigen Vergleiche mit der Vergangenheit gerade so still ruhen wie Puskas in seinem Grab in der Krypta der St-Stephans-Basilika, wo der Star der „Goldenen Elf“ 2006 neben Königen und Heiligen beigesetzt wurde.
Die Erfolge seiner Nachfahren haben einiges an Strahlkraft gewonnen. Vor allen anderen hat sich Ungarns Nationalteam zum dritten Mal in Folge für eine EM-Endrunde qualifiziert. Beim ersten Mal, 2016, war noch der Deutsche Bernd Storck der Trainer des Teams, sein Assistent Andreas Möller. Seit 2018 ist Marco Rossi im Amt. Der Italiener, 59 Jahre alt, gilt als der Vater der jüngsten Erfolge.
Nicht, dass seine Mannschaft zum Kreis der Favoriten zählen würde. Der wird angeführt von den Deutschen“, sagt Rossi bei einem Treffen in der Akademie des ungarischen Fußballverbandes im Dörfchen Telki, gut eine halbe Autostunde von Budapest entfernt. Er würde drauf wetten, so der Italiener aus dem Piemont, dass die DFB-Elf das Heimturnier gewinnt. „Aber ich habe selten in meinem Leben gewettet. Und wenn, dann habe ich verloren.“
Ungarns Nationaltrainer Rossi: Trauerstimmung beim ersten Treffen
Es ist Rossis humorvolle Leichtigkeit, die in den Gemütern seiner Spieler Berge verschoben und letztendlich dafür gesorgt hat, dass an den Ufern der ungarischen Donau die Vergleiche mit früher ausgesetzt sind. Als er 2018 das erste Mal in Telki vor seinem Team stand, sei die Atmosphäre mit der bei einem Begräbnis vergleichbar gewesen“, erinnert er sich vergnügt. Er habe damals seinem Assistenten auf dem Weg in den Besprechungsraum zugeflüstert: „Cosimo, was machen wir hier? Los, lass uns verschwinden!“
Sind sie natürlich nicht. Stattdessen „haben wir die Stimmung schnell gedreht“. Bereits beim ersten Heimspiel in der Nations League, einem 2:1 gegen Griechenland, seien die Spieler seinen Ideen einer granitsoliden Abwehr gepaart mit Nadelstiche-Kontern und viel, viel Opfer- und Leidensbereitschaft gefolgt. Irgendwann stellten sich die ersten Schlagzeilen-Erfolge ein: ein 4:0 in Wembley gegen England und ein 2:1 gegen Deutschland in der Nations League, ein 1:1 gegen den 2018er Weltmeister Frankreich bei der EM 2021.
Mittlerweile ist der Rossi-Kader in die Beletage der Nations League aufgestiegen und hat sich für die EM als Gruppenerster vor Serbien qualifiziert. Zudem war er bis zum 1:2 gegen Irland im jüngsten EM-Form-Test 14 Spielen in Serie ungeschlagen.
Vergleich mit Wölfen
Rossis vielleicht größte Leistung ist, dass er die Nationalspieler, zu denen auch der Union-Berlin-Profi Andras Schäfer oder die zwei Freiburg-Spieler Roland Sallai und Attila Szalai gehören, zu einem verschworenen Haufen geformt hat, der in Wolfsmanier seinen Kontrahenten begegnet. Rossi will bei der Analogie nicht falsch verstanden werden, sie hat nichts mit einer Gruppenjagd auf Opfer zu tun. „Wölfe“, sagt er, „gehen organisiert auf die Jagd. Vorn sind die schnellsten postiert, darum die Stärksten, dahinter hält sich der Anführer auf, der schaut, dass niemand verloren geht.“
Dieser Anführer ist Rossi nicht, er sieht eher die Schlüsselspieler Gulacsi, Orban, Szoboszlai in der Verantwortung. „Ich halte mich nicht für Jesus Christus, der Wunder tut und alle daran teilnehmen lässt“, sagt er. „Ich arbeite hart, ich bin akribisch , leidenschaftlich, und ich gebe nur Impulse mit und die Strategie vor“, fügte er mit einer Bescheidenheit hinzu, die zu seiner Karriere als Spieler und Trainer passt.
Noname auf dem Trainermarkt
Rossi war ein Noname auf dem Übungsleiter-Markt, als er vor sechs Jahren das Amt des Nationaltrainers übernahm. Er war Spieler für elf verschiedenen Vereine, immer Underdogs, oft unterklassig. Solche wie der FC Turin, Internapoli, Piacenza Calcio, auch die Eintracht aus Frankfurt, für die er 1996/97 in der 2. Liga ackerte. 2012 wurde er nach Provinzjobs bei italienischen Zweit- und Drittligisten Cheftrainer bei Honved Budapest. Sein Restaurant-Amico Pippo Giambertone aus der Frankfurt-Zeit hatte ihn mit Honveds Sportchef in Kontakt gebracht. 2017/18 trainierte er in der Slowakei Dunajska Streda. Marco Rossi hat für sich und seine Teams immer den Wolfsspirit gebraucht, um Erfolg zu haben.
Wie weit es ihn bei der EM führt? Rossi will gern ins Achtelfinale. Danach dürfen Können, Matchglück und Schicksal sich gern vereinen. Denn ganz so still ist die Vergangenheit des ungarischen Fußballs nämlich doch nicht. Sein Großvater sei glühender Ungarn-Fan gewesen, vor allem Puskas-Fan, erzählt er. „Und dieses Erbe verteidigen wir. Wir wissen, dass wir nicht die Besten sind, aber wir fühlen uns der Geschichte verpflichtet.“