RB-TRainerin über Sexismus im Frauenfußball Anja Mittag: „Man hat viele Sprüche weggelächelt”
Anja Mittag hat in ihrer Karriere alles gewonnen: Die frühere Nationalstürmerin ist Olympiasiegerin, Weltmeisterin und dreimalige Europameisterin. Gerade ist die 37-Jährige als Individualtrainerin und zweite Co-Trainerin mit Frauen von Zweitligist RB Leipzig in die Saisonvorbereitung gestartet. Im Interview spricht die gebürtige Karl-Marx-Städterin über die Titelreife der deutschen Nationalmannschaft, Probleme und Chancen im Frauenfußball und doppeldeutige Sprüche bei Weihnachtsfeiern.
Anja Mittag, Ihr Karriereende in der Nationalmannschaft liegt fünf Jahre zurück. Wie verbunden fühlen Sie sich dem DFB-Team noch?
Anja Mittag: Ich schaue mir das noch immer sehr emotional an, habe als Ex-Nationalspielerin noch immer eine engere Bindung als der Normalzuschauer, kann mich in die Abläufe und in das Turnier hineindenken. Es war für mich eine gute Entscheidung, damals aufgehört zu haben, heute bin ich als Zuschauerin Feuer und Flamme und freue mich total mit, wenn die deutsche Mannschaft ein tolles Turnier abliefert.
Hat es Sie selbst überrascht, dass die Mannschaft nach der Flaute der vergangenen Jahre schon wieder so reif ist?
Grundsätzlich nicht, ich hatte auch schon vor dem Turnier das Gefühl, dass Deutschland wieder eine tragende Rolle spielen kann. Dass das Team so stabil ist und noch immer kein Gegentor bekommen hat, hatten viele nicht so erwartet. Aber das war ein Prozess, die Mannschaft hat optimal zusammengefunden.
Was macht diesen Prozess aus?
Nachdem Martina Voss-Tecklenburg übernommen hat, hat ein Umbruch stattgefunden, der nach dem Viertelfinal-Aus 2019 konsequenter fortgeführt wurde. Sie hat das Team geformt, viele Spielerinnen haben sich entwickelt und Verantwortung übernommen. Dass Spielerinnen durch die Erwartungen und ihre Erfahrungen in ihren Rollen wachsen, ist für ein solches Turnier entscheidend.
Anja Mittag über die Bundestrainerin: „Empathie und Gefühl entwickelt”
Was macht die Bundestrainerin aus?
Ich habe selbst nicht unter ihr gespielt. Aber nachdem, was ich höre, hat sie eine gute Kommunikation mit der Mannschaft, ist mit ihrem Trainerteam taktisch sehr geschult, kann die Inhalte und Matchpläne sehr gut vermitteln. Es ist wichtig, dass man für seine Spielerinnen Empathie und Gefühl entwickelt – da findet sie eine sehr gute Balance. Dazu trifft sie auch mutige Entscheidungen, wie zum Beispiel, dass Almuth Schult nicht als Nummer eins ins Turnier geht, sondern Merle Frohms. Das hat sie durchgezogen und wird jetzt bestätigt.
Sie haben den Titel selbst drei Mal gewonnen: Ist der Europameistertitel jetzt realistisch?
Die Mannschaft hat ihren Rhythmus gefunden, hat ein Turniergefühl entwickelt. Das Finale ist jetzt aus meiner Sicht ebenso drin wie der Titel. Es wäre auch vermessen, das nach dem Halbfinal-Einzug nicht zu sagen. Frankreich ist jetzt natürlich ein sehr harter Brocken, aber für diese deutsche Mannschaft ist jetzt alles möglich.
Sie sind inzwischen selbst Trainerin. Was fällt Ihnen aus taktisch-technischer Perspektive auf, wenn Sie dieses EM-Turnier beobachten?
Vor allem individuell ist eine sehr gute technische Entwicklung vieler Spielerinnen zu sehen, die jetzt auch unter Druck in der Lage sind, gute Lösungen zu finden. Früher hatte man manchmal das Gefühl, dass Spielerinnen Angst haben, Fehler zu machen oder technisch nicht in der Lage sind, ihre Vorhaben umzusetzen. Bei diesem Turnier sehen wir jetzt ein sehr hohes Niveau. Das gilt auch für den Spielaufbau, wie sich die Mannschaften Chancen herausspielen. Es ist schön mit anzusehen, wie sich Technik und Spielintelligenz in den letzten Jahren gesteigert haben. Mannschaftstaktisch und athletisch gibt es sicher noch weitere Reserven.
„Bundesliga stärken und attraktiver machen”
Wie betrachten Sie die Entwicklung des Frauenfußballs in Deutschland? Die Zahl der Spielerinnen insgesamt hat in der Breite deutlich abgenommen.
Es fangen aktuell – auch Corona-bedingt – weniger Mädchen als zuvor mit Fußball in den Vereinen an. Da muss etwas passieren, dazu gehört auch, die Bundesliga zu stärken und attraktiver zu machen, auch für ausländische Spielerinnen. Die Bundesliga muss medial besser zugänglich sein. Wenn nicht nur die EM live im Free-TV zu sehen ist, sondern auch einige Bundesligaspiele, wäre das ein Riesenschritt.
Das Turnier in England ist sehr atmosphärisch, kann die EM einen Schub geben?
Auf jeden Fall. Die Bilder aus England sind begeisternd, dazu die Leistungen der deutschen Mannschaft. Das kann einen neuen Hype auslösen.
Die Vereine müssen sich die Frage stellen, ob sie ihren Frauenteams die gleichen Möglichkeiten geben wie den Männern.
Anja Mittag
In Spanien und England ist das Interesse an den Ligen höher. Weshalb hinkt die (Frauen-)Fußballnation Deutschland da hinterher?
Das hat viele Ursachen. Es hängt beispielsweise damit zusammen, wie die Vereine ihre Frauenteams vermarkten, wie viel investiert wird und wie Gesichter aufgebaut werden. Die Vereine müssen sich die Frage stellen, ob sie ihren Frauenteams die gleichen Möglichkeiten geben wie den Männern: in Bezug auf Trainingsbedingungen, Stadien, öffentlicher Aufmerksamkeit. Wenn man gute Strukturen schafft und man sich dafür einsetzen würde, die Frauen gleichwertig mit abzubilden, würde das einen großen Mehrwert für die Vereine ebenso wie für die Sportart generell bringen.
Auf welchem Weg ist diesbezüglich Ihr Arbeitgeber RB Leipzig?
Dafür, dass wir 2. Liga spielen, haben wir Top-Bedingungen, gerade was die Personaldecke anbelangt. Da haben wir super Möglichkeiten, es wird vieles für uns möglich gemacht. Das ist schon top, aber natürlich gibt es Entwicklungspotenzial. Aber das hängt auch davon ab, ob wir es schaffen, in die 1. Liga aufzusteigen.
Frauen von RB Leipzig: „Der Aufstieg ist das Ziel”
Das erklärte Ziel für die neue Saison?
Wir spielen jetzt das dritte Jahr 2. Liga. Der Aufstieg ist das Ziel, das kann ich so offen sagen, alles andere wäre nicht glaubwürdig. Wir wollen den Standort Leipzig attraktiv machen. Für die Region soll Leipzig ein zentraler Standort für Frauen- und Mädchenfußball werden. Es wäre doch schön, wenn sich eine Spielerin aus Mitteldeutschland zwischen Jena, Leipzig und Potsdam entscheiden könnte.
Wie eng ist eigentlich der Kontakt zwischen Frauen- und Männerteam bei RB?
Noch nicht sehr eng. Man läuft sich mal über den Weg, grüßt sich freundlich, aber es gibt kaum Berührungspunkte. Aber das ist auch ganz normal, da wir aufgrund des begrenzten Platzes unser Spiel- und Trainingsgelände nicht am Cottaweg haben.
Wie sehen Sie die Debatte um Mindestlöhne und faire Gehälter für die Spielerinnen?
Dass wir Millionen verdienen – Stichwort: Equal pay – ist ja utopisch. Darum geht es nicht, sondern darum, die gleichen Strukturen und Bedingungen zu haben wie die Männer. Es geht auch bei der Bezahlung darum, dass Spielerinnen nicht neben dem Leistungssport noch einem 40-Stunden-Job nachgehen müssen, sondern davon leben können, wenn sie in der 1. Bundesliga spielen.
Was gehört noch dazu?
Dass die Frauen vielleicht nicht die Trainingszeit von 20 bis 21.30 Uhr bekommen, sondern in den Klubs eine höhere Priorität bekommen. Da rede ich nicht von meinem Verein, sondern von vielen anderen Klubs. Es geht zu allererst darum, eine Toleranz für den Frauenfußball zu schaffen, dass Mädchen- und Frauenmannschaften gewollt sind und das Gefühl bekommen, dass sie gern in den Vereinen trainieren und spielen dürfen und sich nicht anhören müssen, dass sie den Rasen kaputt machen. Sowas darf man sich im Laufe einer Karriere durchaus anhören.
Ein Magazinbericht thematisiert Sexismus im Frauenfußball, über den einige Ihrer Ex-Kolleginnen berichten. Deckt sich das mit Ihren Erfahrungen?
Absolut. Auch im Laufe meiner Karriere kamen von Trainern bei Weihnachtsfeiern doppeldeutige Sprüche, was wirklich nicht dahin gehört. Das kann fast jede Spielerin von damals bestätigen, da gab es viele Sprüche und Vorkommnisse, die man weggelächelt hat.
Ist ein Job in der Männer-Bundesliga für Sie vorstellbar?
Hat sich da für die aktuelle Generation etwas gewandelt?
Ja. Aber das ist nicht über Nacht verschwunden, das ist ein Prozess, ein Umdenken in den Köpfen von vielen. Da tut sich was, aber das braucht Zeit.
Wäre es für Sie vorstellbar und überhaupt realistisch, eines Tages auch im Männerfußball als Coach zu arbeiten?
Ich bin grundsätzlich nie abgeneigt, wenn sich neue Möglichkeiten auftun. Aber ich bin im Frauenfußball zu Hause, kenne die Szene, da ist der Zugang für mich einfacher. Ich möchte nichts ausschließen, aber ich glaube, Domenico Tedesco ist mit seinem Staff sehr gut aufgestellt. (lacht)