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RB LeipzigSein Werk bleibt unvollendet: Die Bilanz nach zwei Jahren Julian Nagelsmann bei RB Leipzig

Von Martin Henkel, Ullrich Kroemer 24.05.2021, 07:00

Am Ende war es Formsache. Die Organisation des Umzugs, sagte Julian Nagelsmann nach dem 1:2 bei Union Berlin, habe seine Frau bereits geklärt. Er müsse jetzt „nur noch seine Sachen packen. Und dann ist dieses Kapitel für mich beendet“.

Ein „schönes Kapitel“, wie Nagelsmann schnell ergänzte. Aber da war der Eindruck schon in der Welt, dass es dem 33-Jährigen nicht schnell genug gehen konnte, Leipzig nach zwei Jahren zu verlassen. Bereits am Sonntag fuhr er zu Frau und Kindern gen München, wo er ab der neuen Saison Trainer des FC Bayern wird.

Zurück lässt der gebürtige Landsberger nach zwei Jahren in der ostdeutschen Fremde eine Bilanz aus Licht und Schatten, Triumphen und Niederlagen und Erinnerungen an eine nicht ganz reibungsfreie Liaison mit Spielern und Funktionären des Klubs vom Cottaweg.

Nagelsmann und …

… seine Spieler: Fast jeder Profi hat von Nagelsmanns Übungsleiterfähigkeiten profitiert und seine Chancen weitgehend fair verteilt bekommen. Kevin Kampl etwa hält die vergangene Saison für seine bis dato beste. Selbst Yussuf Poulsen, keine Stammkraft unter seinem Coach, pries neulich seine hervorragenden Saisondaten. Auch Nachwuchskräfte wie Joscha Wosz bekamen ein paar Minuten Spielzeit. Zudem schätzten viele seine jugendliche Art, und dass Nagelsmann bei so manchem neue Talentfacetten zum Vorschein brachte, nimmt ihm auch niemand übel. So gänzlich unbeschwert war das Verhältnis trotzdem nicht. Bei Nagelsmann schlägt Humor schnell in Überheblichkeit um. So reduzierte er etwa Stürmer Poulsen auf die Größe eines guten „Anläufers“ bei gegnerischem Ballbesitz oder beschrieb Lukas Klostermann als eine Art Dienstboten, den man die Arena-Stufen hoch und runterschicken kann und „am Ende paniert er noch ein Schnitzel, wenn man ihm das sagt“. Erst im zweiten Jahr wurde die Bindung enger – bis Nagelsmann die emotionale Bande durch seinen Abgang nach München wieder sprengte.

…  die Klubfunktionäre: Dass der Cottaweg keine Adresse für heimelige Vereinsatmosphäre ist, weiß man. Nagelsmann dürfte dennoch überrascht gewesen sein, wie nüchtern es in der Führungsetage zugeht, wo er vor allem auf Beharrungskräfte traf, die seine Abkehr vom alten RB-Überfallfußball mit Argwohn betrachteten. Als es dann vergangenen Sommer auch noch eng mit der Champions-League-Qualifikation wurde, soll es bei einem Bilanztreffen ordentlich gescheppert haben. Am Ende, heißt es, gehe man im Guten auseinander. Es dürfte nicht ganz der Wirklichkeit entsprechen.

Nie in Leipzig heimisch geworden

… die Fans: Zu Beginn war es ein Honeymoon zwischen Nagelsmann und dem Leipziger Anhang. Der Neue hatte extra seine Bank getauscht, um näher am Fansektor B zu sein, es wurde ihm gedankt mit Standing Ovations. Dann kam die Pandemie, seitdem sind die Stadien leer. „Eine enge Bindung“ habe sich deshalb nicht entwickelt, sagte Nagelsmann unlängst. Weil er die Beziehung nach zwei Jahren abbrach, schwappte ihm in den vergangenen Wochen ­– unter anderem in bitterböser Fanpost – eine Welle an Frust, Schmerz und Vorwürfen entgegen.

… Stadt und Leute: Heimisch ist der Trainer in Leipzig nie geworden. So fehlten ihm die Berge seiner Heimat Bayern. Nicht mal Hügel gibt es im alten Braunkohleland, für die sich seine geliebten Ausflüge mit dem Mountainbike gelohnt hätten. Zumal ihm in den ersten Monaten das Fahrrad aus dem Hausflur geklaut wurde. Doch auch der Menschenschlag schien ihn zu irritieren. In einem Interview mit dem Magazin Focus erklärte er nach nur einem Jahr Ost-Erfahrung: „Die Generationen, die die DDR erlebt haben, sind noch da, und was sie vor dem Mauerfall geprägt hat, geben sie an ihre Kinder weiter. Das merkt man daran, dass Aufgaben erledigt werden, wenn sie wie beim Delegieren klar benannt sind. Wenn ich aber viele Details nicht sage, dann werden viele Dinge von sich aus nicht gemacht.“

Dritte Spielzeit nach zwei unterschiedlichen fehlt

… die großen Spiele: Das wohl kompletteste Spiel unter Nagelsmann war das 2:1 im Champions-League-Viertelfinale gegen Atlético Madrid. Selten war ein Leistungssprung im Fußball so deutlich zu erkennen wie in diesem Match. RB spielte plötzlich so schnellen Kombinationsfußball, wie nie zuvor in einem Spitzenspiel. Zugleich agierten Konrad Laimer & Co. derart giftig gegen den Ball, dass selbst den Madrilenen – selbst Inbegriff des galligen Spiels – kein Gegenmittel einfiel. Legendär ist auch das 3:2 im entscheidenden Spiel um den Einzug in die K.o.-Runde der Champions League gegen Manchester United, als Angeliño die Briten im ersten Durchgang fast im Alleingang überrollte. Ebenso die glanzvollen Siege im Achtelfinale gegen Tottenham, als sich RB erstmals auf der großen Bühne wie ein Spitzenteam präsentierte, was Nagelsmann zuzuschreiben ist.

… das Spielsystem: Der Überflieger aus Landsberg am Lech hat nicht nur etwas „on top” gesetzt, wie er das bei seinem Einstand verkündete, er hat RB eine komplett neue, variablere Spielidee verpasst. Ballbesitz- und Kombinationsfußball hat er in Leipzig auf ein neues Level gehoben. Eine Palastrevolution im Red-Bull-Reich, weil er den Schwerpunkt vom Pressing-Gegenpressing-Konter-Fußball auf das Spiel mit Ball am Fuß verlegte. Die Saisondaten (60 Prozent Ballbesitz, 16 Torschüsse pro Spiel und 82 Prozent Passquote) belegen das. „Wir haben uns fußballerisch in allen Bereichen weiterentwickelt – nur die Tore sind der einzige Wert, bei dem wir uns deutlich verschlechtert haben”, bekannte er. In diesem Jahr das große Manko, weil erstens Timo Werner nicht adäquat ersetzt werden konnte und es Nagelsmann zweitens nicht schaffte, das Spiel auf einen der vorhandenen Stürmer zuzuschneiden.

Nach einer torreichen ersten Saison (81 Tore), aber auch zahlreichen Gegentreffern (37) und einer lange sehr stabilen (am Ende jedoch löchrigen) Abwehr in der zweiten Spielzeit und Chancenverwertung auf Abstiegskampfniveau (Torverhältnis 60:32) hätte es eine dritte Saison gebraucht, die den Nagelsmann-Fußball ganzheitlich und ausgewuchtet zum Vorschein hätte bringen können. Diese Zeit hat der Trainer sich und dem Klub nicht gegeben. So bleibt sein Werk unvollendet.

Nagelsmann: „Titel darf gern nächstes Jahr mit Jesse Marsch klappen”

… das Coaching: Vor allem im ersten Jahr gab es regelmäßig Aha-Effekte, nachdem Nagelsmann in der Halbzeitpause intervenierte oder neue im Spiel umstellte und so Spiele drehte oder auf RB-Seite zog. Dazu erfand er etwa für Angeliño die Position des verteidigenden Linksaußen und schrieb Laimer eine Hybridrolle als Sechser und rechter Läufer auf den Leib. Nagelsmann stellte stets mutig auf – was ihm zum Ende im Pokalfinale auf die Füße fiel, als auch er das Spiel vercoachte.

… der Ausblick: „Wenn du nicht Erster in Deiner Liga bist und du keinen Pokal gewinnst, sind die Fußstapfen auf überschaubarem Niveau”, sagte Nagelsmann zum Abschied. Das klang gleichermaßen realistisch wie etwas trotzig. Gut sichtbare, aber keine übergroßen Fußabdrücke für Nachfolger Jesse Marsch. „Ich habe schon den Anspruch, ein guter Trainer zu sein, aber nicht den Anspruch und die Befürchtung, dass nach mir alles zusammenbricht”, sagte Nagelsmann. Marsch soll das Aushängeschild des Red-Bull-Fußballs wieder ein My zurück zur Konzern-DNA führen. Zusammen mit dem zwei Jahre erlernten Vermögen am Ball könnte das wieder zu leidenschaftlicherem und erfolgreicherem Fußball führen als zuletzt. „Jetzt hat der Titel mit mir nicht geklappt, dann darf er gern nächstes Jahr mit Jesse klappen”, sagte Nagelsmann und schob hinterher: „Natürlich wünsche ich mir nicht, dass sie nächstes Jahr besser sind als meine neue Mannschaft, aber daran werden wir arbeiten.”

(RBlive/hen/ukr)