Geliebt wie nie Wie Rangnick Österreich zum Geheimfavoriten coacht
Wenn ein paar Faktoren zusammenkommen, kann Ralf Rangnick noch immer eine Gruppe Spieler zu mehr formen als die Summer der einzelnen Teile. Nun kommt er zum Achtelfinale zurück nach Leipzig.
Berlin – Ralf Rangnick ist kurz vor seinem 66. Geburtstag zwar noch so fit wie andere mit 50. Doch nach dem spektakulären 3:2 (1:0)-Erfolg seiner Österreicher gegen die Niederlande musste sich der Teamchef mal kurz setzen. So sah er entspannt zu, wie seine Spieler am Marathontor des Berliner Olympiastadions vor 20.000 Landsleuten jubelten. „Ich wollte mich einfach ein bisschen ausruhen”, sagte Rangnick lächelnd. Er genoss den Moment, nachdem seine Mannschaft perfekten und mitreißenden Tempo-Fußball zelebriert hatte. „Viel besser kann man es nicht spielen”, lobte der langjährige Baumeister von RB Leipzig sein Team.
Dass die Österreicher in der sogenannten Todesgruppe D vor Frankreich und den Niederlanden ins Achtelfinale einzogen, konnte Rangnick fast selbst nicht glauben. „Wir sind mit einem unglücklichen Eigentor gegen Frankreich ins Turnier gestartet. Dann noch Gruppensieger zu werden, ist unglaublich. Wer darauf getippt hat, ist jetzt ein reicher Mann”, sagte er.
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Österreich spielt schnörkellos, direkt, energiegeladen und mutig
Gegen die Niederländer demonstrierte Österreich vor 71.000 Fans auf der größtmöglichen Bühne, wie gut Mannschaft und Trainer in den vergangenen knapp zwei Jahren zusammengefunden haben. Immer wieder setzte das Austria-Team die Niederländer, die wie paralysiert reagierten, in Pressing und Gegenpressing unter Druck. „Jeder weiß jetzt, dass er nach Ballverlust sofort auf Balljagd geht, das ist der größte Unterschied”, beschrieb Kapitän Marcel Sabitzer.
Doch nicht nur gegen den Ball, auch mit dem Ball agierte der Underdog aus der Alpenrepublik schnörkellos, direkt, energiegeladen und mutig. „Wir waren clever im Freilaufverhalten, haben die Räume gesucht, wo wir sie freigezogen haben. Sie spielen sehr mannorientiert im Mittelfeld, wenn du da auf der Zehn oder einem Außenspieler Überzahl schaffst, kommst du auch in freie Räume”, erklärte der überragende Sabitzer das Spielkonzept gegen taktisch überforderte Niederländer.
Rangnick fand auch diesmal das richtige Personal für seinen Matchplan, zauberte etwa Alexander Prass von Sturm Graz aus dem Ärmel, der über die linke Seite mit seinen scharfen Hereingaben Druck machte und das frühe 1:0 provozierte. „Das hat die Erkenntnis gebracht, dass die Breite des Kaders noch ein bisschen breiter ist als gedacht”, so Rangnick.
Rangnick entdeckt die Lockerheit
Wenn eine solche Mentalität im Team, der unbedingte Wille zu Arbeit und Erfolg, Leader wie Sabitzer sowie die komplette Überzeugung und das Vertrauen in Rangnicks Spielphilosophie zusammenkommen, kann der akribische Altmeister aus einer Gruppe Spieler noch immer mehr erschaffen als die Summe der einzelnen Teile. Dazu kommt inzwischen auch Lockerheit, die Rangnick einst abging.
Als der verletzte Spielführer David Alaba, der am Spielfeldrand immer dabei ist, nach dem rauschhaften Erfolg spontan einen freien Tag ausrief, schlug Rangnick bereitwillig ein. Der Deutsche identifiziert sich voll mit der Nation seines Arbeitgebers, wenn Austropop-Songs wie Reinhard Fendrichs „I am from Austria” im Teambus oder in der Fankurve intoniert wird, bekommt Rangnick Gänsehaut.
Rangnick wird in Österreich so geliebt wie noch nie in seiner Karriere
Von den österreichischen Fans wird der „Piefke” eh längst so innig geliebt, wie wohl noch nie in seiner Karriere. Die Euphorie ist längst ausgebrochen, das war aus zehntausenden Kehlen in Berlin zu hören, die den Triumph bis tief in die Nacht feierten. Nun werden die „Ösis“ auch von den Konkurrenten als ernstzunehmender Geheimfavorit wahrgenommen. „Ich halte es für nicht sehr wahrscheinlich, dass wir Europameister werden”, sagte Rangnick, aber „völlig ausgeschlossen“ sei es auch nicht.
Dass die Österreicher nun ihr Achtelfinale in Leipzig (2. Juli) austragen dürfen, ist eine weitere schöne Facette dieser Erfolgsgeschichte. „Für mich und einige meiner Spieler ist es auch die Reise zurück in die alte Heimat, für zwei sogar in die aktuelle”, sagte Rangnick. Sabitzer und Konrad Laimer haben lange in Leipzig gespielt, aktuell sind es Christoph Baumgartner und Nicolas Seiwald. Dass Rangnick nun in seinem alten Wohnzimmer im Falle eines weiteren Sieges den größten EM-Erfolg der Österreicher seit 1960 erreichen kann, ist für ihn durchaus emotional.