Porträt Schwarzpulvriger Familienvater: Die zwei Seiten des Diego Simeone
Der Coach von Atletico de Madrid ist einer der impulsivsten Trainer des Weltfußballs. So sehen ihn Kollegen und Spieler.
Madrid – Diego "el Cholo" Simeone lässt sich gerade einen Oberlippen-Bart stehen. Er hat seine finale Stufe bald erreicht. Dann wird sein Bigote Tom Selleck alle Ehre machen.
Es ist gut, dass der Argentinier immer mal mit der Zeit geht und sich modischen Trends anpasst. Seit zwölfeinhalb Jahren ist er nun schon Trainer des Madrider Traditionsvereins Atletico de Madrid, der an diesem Donnerstag RB Leipzig in der Champions League empfängt (21 Uhr/DAZN, Amazon Prime). Man könnte schnell vergessen, wie lange das schon her ist, würde sich sein Aussehen nicht verändern.
Bart wie Tom Selleck
Als er Dezember 2011 den Job bei „Atleti“ übernahm, waren Wangen, Kinn und Oberlippenregion noch glattrasiert, das Haar trug er kurz, an den Seiten war es auf Millimeter-Länge geschoren; Er sah aus wie ein Kriegsteilnehmer. Mittlerweile trägt er das Haupthaar länger und lockig, an den Seiten ist es kurzgeschnitten. Dazu kommt jetzt die Hommage an den US-amerikanischen Schauspieler Selleck, woran man ablesen kann, dass sich Diego Simeone nicht nur äußerlich mit den Jahren verändert hat. Auch sein Wesen hat ein paar Modifikationen durch.
Welche das sind, in welchem Umfang sie den 54-Jährigen verwandelt haben, wird sich zeigen, wenn er am Donnerstagabend umringt von 70.000 Fans an der Seitenlinie steht – und nicht weit weg von ihm Marco Rose die Leipziger Trainerbank-Zone ablaufen wird. Zwei Übungsleiter, deren Spieltagscoaching vor allem von Adrenalin und großen Gefühlen geprägt ist. In Sichtweise zueinander. Ein Lackmustest für die nächste Biografie-Stufe.
Atletico-Trainer seit 2011
Julian Nagelsmann, der aktuelle Trainer der deutschen Nationalmannschaft, hat Diego Simeone mal als „Dynamit“ bezeichnet. Das war August 2021 während des Pandemie-Champions-League-Turniers in Lissabon, bei dem Nagelsmann als Trainer von RB Leipzig Atletico im Viertelfinale 2:1 besiegte. Der Ex-RB-Coach meinte es damals mit „Hochachtung“.
Gleichzeitig gibt es von Simeone auch eine Variante, die Kollegen abstößt. Einen Trainer, der Schiedsrichter beleidigt, der gegnerische Spieler anfeindet, der Bälle wegkickt, Spielfelder unerlaubt betritt, Tribünenstrafen unterläuft. Schon als Spieler hat er polarisiert. Die einen sahen in dem defensiven Mittelfeldspieler der argentinischen Nationalmannschaft und Klubs wie dem FC Sevilla, Lazio Rom, Inter Mailand und zwei Mal Atletico Madrid einen Krieger, Kämpfer, Patrioten und loyalsten Teamkollegen, der sich finden ließ. Andere, wie David Beckham oder Julen Guerrero, waren vermutlich anderer Meinung.
Loch im Oberschenkel
Beckham streckte Simeone bei der Weltmeisterschaft 1998 im Spiel zwischen England und Argentinien mit einem Rückenrempler zu Boden und drückte beim Aufstehen auch noch dessen Kopf in den Rasen, wofür der Brite sich mit einem Tritt rächte. Die Rote Karte hat ihren ikonischen Platz in der WM-Geschichte. Guerrero wiederum trat er 1996 in einem Spiel zwischen Atletico Madrid und Athletic Bilbao mit den Stollen seines Schuhs ein Loch in den Oberschenkel.
Simeone, der Trainer, scheint die Geschichte des Spieler-Meisters mit Lazio, Inter und Atletico fortzuschreiben. Viele Kollegen schätzen aber seine Hingabe und Leidenschaft, denn der feurige Kollege aus Madrid kann aus einer Ansammlung von Einzelfußballern einen verschworenen Haufen formen, der jedes Spiel in dem Bewusstsein bestreitet, es ginge ums nackte Leben – und wir gegen den Rest der Welt.
In einer Doku-Serie, angefertigt in der Saison 2020/2021, in der er seine zweite spanische Meisterschaft gewann, sagt Simeone an einer Stelle: „Fußball ist so gut wie alles in meinem Leben.“ In dem „Bio-Pic“ gibt der sonst eher distanzierte Argentinier Einblicke in ein friedvolles Familienleben mit drei Söhnen (alle drei Fußballer) und zwei Töchtern aus zwei Ehen, dazu in einen arbeitsvollen Alltag, auf einen kräftigen und liebevollen Humor, und ein Leben, das sich tatsächlich nur um Fußball zu drehen scheint. Vor allem um Atletico de Madrid.
13 Mal Champions League in Serie
Simeone war schon als Spieler Ikone des Madrider Arbeiterclubs, ein Malocher, ein Guerrero, Meister mit den „Rojiblancos“ 1996. 2011 kam er als junger Trainer zurück. Das Atletico, das er vorfand, war ins Mittelmaß abgerutscht, es hatte Schulden und eine operettenhafte Klubführung.
13 Mal hintereinander hat er den Klub für die Champions League qualifiziert. Er hat zwei Mal die Liga gewonnen, einmal den Pokal. Er hat die Europa League gewonnen und stand zwei Mal im Finale der Königsklasse. Seine Erfolge haben die Kassen saniert, Atletico zum drittreichsten Klub der Liga gemacht und das neue Stadion „Wanda Metropolitano“ finanziert. Aktuell ist er Zweiter der Liga mit vier Punkten Rückstand auf den FC Barcelona, punktgleich mit Real Madrid.
Der Verein ist ohne den Trainer kaum noch vorstellbar. Simeone wird verehrt von Fans, Spielern und der Klubführung gleichermaßen. Selbst wenn es mal nicht läuft und alle über einen Trainerwechsel nachdenken, Trainer inklusive, stellten sie für sich fest, dass es wohl besser wäre, alles so zu belassen, wie es ist. Die Transformationen finden deshalb intern statt, deshalb auch bei Simeone, der seinem Kern doch treu bleibt. An einer der Schmalseiten des Stadions hängt ein gewaltiges Poster von ihm. Es zeigt ihn in seinem typischen, schwarzen Anzug - und in der für ihn typisch schwarzpulvrigen Körperhaltung. Dynamit eben.