RB LeipzigRB Leipzigs Kapitän Willi Orban im Bilanz-Interview: „Der Riesenanspruch kann dich auffressen”
Am Saisonende spricht der Kapitän. Vor dem letzten Spiel gegen den FC Augsburg (Sa., 15.30 Uhr) zieht RB Leipzigs Spielführer Willi Orban im Gespräch bei Mitteldeutscher Zeitung/RBlive Bilanz.
Willi, Sie haben verletzungsbedingt viele Spiele von außen betrachten müssen. Wie fällt Ihr Fazit dieser Saison aus?
Willi Orban: Grundlegend positiv. Dass wir zum dritten Mal die Champions League erreicht haben, ist immer noch nicht selbstverständlich. Und das Erreichen des Viertelfinales in der Champions League hat Klasse.
Aber?
Nach der Herbstmeisterschaft in der Bundesliga haben wir alle von mehr geträumt. Jeder von uns hat höchste Ansprüche. Aber am Ende muss man sich eben eingestehen, dass Bayern München und Borussia Dortmund zurzeit noch eine höhere Qualität und Konstanz haben. Das hat uns zur Realität zurückgeführt und gezeigt, dass wir noch einige Schritte zu gehen haben. Das wurde uns in der Rückrunde gerade in den letzten Spielen vor Augen geführt.
Der FC Bayern hat in der Rückrunde 20 Punkte mehr geholt als RB. Rumort es da nicht in Ihnen?
Natürlich wollen wir noch höher hinaus. Aber man muss auch realistisch bleiben und sehen, mit welcher Konstanz und Selbstverständlichkeit Bayern das Pensum abgespult hat. Die waren ebenso müde wie wir, aber die Bayern haben es geschafft, Spiele auch mal über die Zeit zu bringen, die wir vergeigt haben – aus Naivität, Leichtsinn, Unerfahrenheit. In diesen Bereichen müssen wir zulegen, abgezockter werden. Das ist ein Prozess.
Hat sich die Rückrunden-Flaute in der Winterpause angedeutet, sodass man hätte gegensteuern können?
So konkret nicht. Der Trainer hat den Ansatz, den wir in der Hinrunde hatten, weiter forciert. Er hat uns seine Prinzipien ja nach und nach vermittelt. In der Rückrunde haben wir dann versucht, mehr davon umzusetzen. Aber wir haben gemerkt: So eine Saison kann lang werden, vor allem jetzt mit Corona. Da gehört es auch dazu, die Energiereserven einzuteilen. Der FC Bayern ist das beste Beispiel. Die spielen in der Hinrunde oft ein wenig lockerer, aber in den entscheidenden Monaten sind sie immer in Topform, spritzig und alle bereit, extra Wege zu laufen. Das ist auch eine Erfahrung, die sie uns derzeit noch voraushaben.
Der Trainer hat mehrfach angemahnt, dass mehr Führung aus dem Team herauskommen muss. Was muss sich konkret ändern?
(überlegt) Wir sind nicht die lauteste Mannschaft, aber das ist aus meiner Sicht kein ausschlaggebender Punkt dafür, warum wir in der Rückrunde nachgelassen haben. Wir haben viele Spieler, die Verantwortung übernehmen. Zwar keinen wie Thomas Müller, der dem Schiedsrichter bei jeder Entscheidung auf die Pelle rückt (lacht). Aber viele, die mit ihrer Art und Weise, wie sie Fußball spielen, auch nonverbal Führung und Verantwortung übernehmen. Doch viele sind noch jung. Gerade die jungen Spieler haben noch Potenzial, auch für sich selbst Verantwortung zu übernehmen, für die Konstanz ihrer Leistungen, für die Vor- und Nachbereitung der Spiele. Und um auf dem Platz auch mal ein Zeichen zu setzen.
Wenn du von viel zu großen Dingen träumst, kann das auch zu Verzweiflung führen.
Willi Orban über geplatzte Meisterträume
Haben Sie in der Kabine Veränderungen bemerkt?
Nein. In den vergangenen Jahren war es manchmal so, dass die Bereitschaft abnahm, auch am Ende der Saison komplett an die Grenze zu gehen. Das war in dieser Saison überhaupt nicht der Fall. Die Stimmung ist grundlegend positiv, alle sind dabei, jeder hat im Training Gas gegeben. Da hat der Trainer einen guten Job gemacht.
Inwiefern?
Jeder von uns hat einen Riesenanspruch, der kann dich auch auffressen. Wenn du von viel zu großen Dingen träumst und dich an Mannschaften orientierst, die eben noch auf einem anderen Level spielen, kann das auch zu Verzweiflung führen. Daher mussten wir reflektieren: Was haben wir erreicht? Woher kommen wir? Wir hatten einen neuen Trainer, der eine zum Teil neue Art des Fußballs mitgebracht hat. Da bleibt letztlich viel Positives hängen.
Spiel mit dem Ball vs. RB-DNA: „Das ist die größte Herausforderung, die wir zu managen haben”
Ist es dauerhaft möglich, die neuen Ideen mit Ball und die ureigenste Aggressivität des RB-Fußballs zu verbinden, oder wird RB da seiner DNA beraubt?
Das ist die größte Herausforderung, die wir in naher Zukunft zu managen haben. Dass wir die Balance beibehalten zwischen aggressivem Pressing gegen den Ball und den neuen Prinzipien mit Ball. Da müssen wir immer wieder kalibrieren, uns neu hinterfragen. Wir müssen uns entwickeln, aber dabei auch unsere Identität bewahren.
Ein paar Säulen der verschworenen Aufstiegsteams wie Diego Demme und Stefan Ilsanker sind schon gegangen. Über Emil Forsberg wird diskutiert. Braucht es nicht gerade jetzt deren Erfahrung?
Wir haben außergewöhnliche Nachhaltigkeit im Kader. Aus der zweiten Liga sind immer noch sieben Spieler im Team. Dass es Veränderungen gibt, ist normal. Wichtig ist, dass wir unsere Struktur, unsere Art zu spielen, die Art der Zusammenarbeit in unserem Verein, mit der wir es so weit geschafft haben, beibehalten. Julians Prinzipien packen wir jetzt oben drauf, um das nächste Level zu schaffen. Wenn sich jemand wie Timo Werner so stark entwickelt, ist es doch Anerkennung für alle im Verein, dass er diesen Schritt zu einem Topklub wie Chelsea schafft. Aber wir wollen unsere Jungs auch beisammenhalten, um unsere Ziele zu erreichen. Wir werden erfahrener, das wird nochmal mehr Qualität in den Kader bringen.
Was war für Sie revolutionär im ersten Jahr unter Nagelsmann?
Der gesamte Komplex mit dem Ball. Wir wollen numerisch immer Überzahl im Mittelfeld kreieren, um in bestimmten Bereichen mehr Leute zu haben als der Gegner, um Räume zu schaffen und hinter die Kette zu kommen. Man merkt im tagtäglichen Training immer wieder, dass Julian neue Ansätze einbringt, die man vorher so gar nicht beachtet hat. Da sind wir variabler geworden, spielen viel mehr Chancen heraus und arbeiten gezielt an Lösungen. Das haben wir ja vorher nie so praktiziert. Deswegen ist es eher beeindruckend, wie schnell wir in diesem Bereich Fortschritte erzielen konnten.
Wie ist das Verhältnis zwischen Team und Trainer – auch im Vergleich zu seinen Vorgängern?
Vergleichen kann man sie nicht. Jeder hat unheimliche Stärken. Julian ist durch seine dynamische Art etwas lockerer, macht mehr Späße, lässt im Training auch den eigenen Spieltrieb raus und würde am liebsten selbst mitkicken. Für sein geringes Alter ist er schon eine herausragende Trainerpersönlichkeit. Auch er hat Bereiche, in denen er sich noch verbessern will. Aber grundsätzlich bin ich von ihm völlig überzeugt. Auch er wird seinen Weg machen.
Genau solche Typen brauchen wir, um Großes zu erreichen
Willi Orban über Julian Nagelsmann
Wie sind denn seine öffentlichen Kritikreden in der Mannschaft angekommen? Stichwort: Gipfelkreuz.
Wir haben das natürlich wahrgenommen. Aber genau deswegen passt er doch zu herausragend zum Verein. Genau solche Typen brauchen wir, um Großes zu erreichen. Auch er hat einen Riesenanspruch. Ich habe es als Zeichen von ihm betrachtet, dass er an uns glaubt und dass er uns alles zutraut. Zu dem Zeitpunkt war noch alles möglich. Es hat zwar nicht geklappt, dass wir danach eine Siegesserie gestartet haben. Aber es kam auf jeden Fall positiv in der Mannschaft an.
Betrachten Sie die abgelaufene Saison also als weiteres Lehrjahr, um die nächste Saison vorzubereiten und Erfolge zu ernten?
Die erneute Qualifikation für die Königsklasse und das Champions League-Viertelfinale sind für ein „Lehrjahr“ gar nicht so schlecht, oder? Es war nicht zu erwarten, dass alles perfekt funktionieren würde. Dafür ist der Umbruch zu groß. Aber die Basis ist gelegt, um in der nächsten Saison einen großen Schritt zu gehen.
Das heißt konkret?
Noch näher an die Tabellenspitze zu kommen. Um den letzten Schritt zu gehen, bedarf es in diversen Bereichen ein paar Prozent mehr. Aber die kann man sich von unserem Niveau aus erarbeiten.
Der dritte Platz ist für RB also nicht das Maximum, sondern Sie halten es für möglich, zunächst mal den BVB zu übertrumpfen?
Natürlich. Deswegen sind wir hier und leisten jeden Tag herausragende Arbeit. Weil wir immer weiter Details verbessern, halte ich es für durchaus möglich, weiter oben anzugreifen. Das ist unser Anspruch.
Willi Orban: „Wenn ich in Topform bin, führt an mir kein Weg vorbei”
Haben Sie persönlich nach überstandener Meniskus-Operation wieder den Anspruch und die Form, als Stammkraft in die Abwehr zu rücken?
Absolut. Ich habe Zeit gebraucht, bin immer noch nicht bei 100 Prozent. Aber ich werde die kurze Urlaubszeit nutzen, um mich mit meinem Personal Trainer weiter körperlich der 100 Prozent-Marke anzunähern. Ich freue mich sehr darauf, wenn es dann gleich mit dem schönsten Wettbewerb – der Champions League – wieder losgeht.
Lukas Klostermann und Marcel Halstenberg sind für Sie als Konkurrenten hinzugekommen. Wie sehen Sie die Situation auf Ihrer Position?
Darauf fokussiere ich mich nie. Wenn ich in Topform bin, kann ich der Mannschaft viel geben und dann führt an mir kein Weg vorbei. So viel Vertrauen habe ich. Wir haben aber so viele Spiele, dass es notwendig ist, so viele Jungs auf diesen Positionen zu haben, um dem Trainer die Möglichkeit zu taktischen Veränderungen zu geben. Jeder wird seine Einsätze haben. Wir brauchen einen breiten Kader – auch um mit der Müdigkeit, die wir jetzt zum Saisonende gespürt haben, im nächsten Jahr besser umzugehen. (RBlive/ukr)