RB LeipzigRB Leipzig: Trainer Jesse Marsch exklusiv im Interview: "Wir haben von den Jungs immer mal Prügel bezogen"
Herr Marsch, Leipzigs neuer Stürmer Brian Brobbey hat neulich erzählt, er hätte sich Ihre berühmte Kabinenansprache in Salzburg beim Champions-League-Spiel gegen Liverpool angeschaut und danach das Gefühl gehabt, Sie seien der richtige Trainer für ihn. Teilen Sie seine Einschätzung?
(lacht) Damals wurde eine Doku über Salzburg in mehreren Teilen gedreht. Die Abmachung war, dass ich diese Teile zu sehen bekomme, bevor sie veröffentlicht werden. In diesem Fall hatte ich den Ausschnitt jedoch nicht zu Gesicht bekommen. Er wurde einen Tag später ins Netz gestellt. Glücklich war ich nicht darüber.
Sie machen eine gute Figur.
Mein Deutsch war zu dieser Zeit nicht so gut. Auch deshalb habe ich gefühlt 50 Mal das Wort „fuck“ benutzt. In Deutschland ist das vielleicht lustig, in den USA kommt sowas nicht so gut an. Ich musste mehrmals an meinen Vater denken und was er wohl von meiner Ausdrucksweise hält.
"Wir sind Konkurrenten"
Schämen Sie sich?
Mein Problem ist eher gewesen, dass das Video den Eindruck erzeugt hatte, ich wäre durch meine Ansprache allein dafür verantwortlich, dass mein Team in der zweiten Halbzeit so gut gegen Liverpool gespielt hat. Ich finde es nicht gut, wenn der Trainer die komplette Anerkennung für etwas bekommt, das die Spieler auf dem Platz geleistet haben.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Trainer Ihre Leistungen in den Vordergrund rücken. Hatten Sie eigentlich mal Kontakt zu Julian Nagelsmann?
Wir haben uns einmal bei einer Sponsorveranstaltung gesehen. Sonst aber nicht, nein.
Wäre es nicht sinnvoll, sich mit einem Trainer auszutauschen, der Ihre Mannschaft zuvor trainiert hat?
Das ist im Fußball eher unüblich. Dafür müsste man sich schon gut kennen, zumal wir in der nächsten Saison Konkurrenten sind.
Rund um den Klub wird unter dem Trainer Jesse Marsch eine Korrektur der Spielweise erwartet, die RB die vergangenen zwei Spielzeiten gepflegt hat. Mit Nagelsmann als Trainer hatte sich der Ballbesitzanteil signifikant erhöht. Sie stehen eher für den klassischen RB-Ansatz von Gegenpressing und schnellem Konterspiel. Welche Veränderungen planen Sie?
Vorweg, RB die vergangenen zwei Jahre aus der Ferne zu beobachten, war sehr interessant für mich. Ich hatte Kontakt mit ein paar früheren Mitarbeitern und habe Sie immer mal gefragt, was Sie warum gerade wie machen. Ein paar dieser Dinge haben wir auch in Salzburg umgesetzt.
Sie haben spioniert?
(lacht) Die Elemente, die wir übernommen hatten, haben gut funktioniert. Wichtig war mir und uns in Salzburg aber, dass sie innerhalb unserer DNA funktionieren müssen. Was ich damit sagen will: Die Basis muss klar sein, und die ist in Leipzig unser RB-Fußball. Dann setzen wir oben drauf, was hier die vergangenen zwei Jahre gut geklappt hat."
"Ich beginne nicht etwas komplett Neues"
Was sagen die Spieler dazu?
Die, mit denen ich gesprochen haben, haben gemeint, dass die Intensität gegen den Ball noch höher sein könnte inklusive dem für uns typischen vertikalen, schnellen Konterspiel. Viele Spieler kennen diesen Ansatz seit vielen Jahren, und sie schätzen ihn. Gleichzeitig mögen sie einige Dinge aus den vergangenen zwei Jahren. Wir werden das miteinander verbinden. Wir wollen das Komplizierte einfach machen und den Jungs Raum geben, in dem sie frei entscheiden können, was zu tun ist.
Werden die Spieler diesen Raum nutzen? In den vergangenen Jahren konnte man den Eindruck haben, dass Leipzigs Profis viel Anleitung benötigen.
Es steht mir nicht zu, einzuschätzen, was die vergangenen zwei Jahre der Fall bei RB war. Ich nehme nur wahr, dass viele Spieler, die schon lange hier sind, mittlerweile enorm viel Erfahrung gesammelt haben und richtig gute Fußballer sind. Das hat man auch bei der EM gesehen. Ich verstehe mich als Teil dieser Gemeinschaft, des Vereins. Mein Job ist es, den Jungs zu vermitteln, dass sie nicht meine Erlaubnis brauchen, um als Gruppe für sich und den Verein alles erreichen zu können.
Was ist mit Entscheidungen, die Sie für richtig halten, auch wenn die Spieler das vielleicht anders sehen?
Natürlich bin ich der, der das Gesamtbild im Blick hat und ich werde Entscheidungen treffen müssen, von denen ich überzeugt bin. Aber das werden immer Entscheidungen sein, die ich für die Spieler und den Erfolg treffe und nicht aufgrund von äußeren Einflüssen.
Wenn Sie sich Ihren ersten Auftritt als Cheftrainer von RB Leipzig in einem Pflichtspiel vor Augen führen, was empfinden Sie dabei?
Wenn Sie damit fragen, ob ich übermäßig aufgeregt bin, dann ist die Antwort: Nein, bin ich nicht. Als ich das Angebot von RB bekam, war es einfach für mich, mir das vorzustellen. Ich war ja 2018/2019 Co-Trainer in Leipzig unter Ralf Rangnick. Ich habe deshalb nicht das Gefühl, etwas komplett Neues zu beginnen.
Sie haben also keinen erhöhten Puls, wenn Sie an Sandhausen denken?
Auch das nicht. Es wird natürlich etwas Besonderes sein. So cool bin ich dann auch nicht. Immer, wenn man eine Mannschaft übernimmt, stellen sich die Fragen: Wie arbeitet die Gruppe zusammen, akzeptieren sie meine Art, meine Ideen? Setzen Sie um, was ich mir vorstelle?
Und, tut sie es?
(lacht) Das hoffe ich doch. Ich denke, es war vieles gut in der Vergangenheit, doch es gibt immer auch noch Raum für Verbesserung. Und diese Verbesserungen wollen wir zusammen erreichen.
Welche Verbesserungen meinen Sie?
Ich freue mich, wie sehr sich viele Spieler bei RB in den vergangenen Jahren entwickelt haben. Das kann ein riesiger Vorteil für uns sein. Ich möchte, dass diese Spieler Ihre Erfahrung zum Vorteil der ganzen Gruppe einbringen. Und ich möchte Klarheit für die Spieler schaffen, was unsere Identität ist - als Mannschaft und als Verein. Darüber habe ich mit den Spielern im Spielerrat gesprochen. Was sind unsere Stärken, was sind unsere Schwächen, was brauchen wir, um eine richtig starke Gruppe zu sein. Ein Team.
"Hier zu sein, ist ein riesen Fortschritt"
Sie glauben, dass war in den vergangenen Jahren nicht so?
Das möchte ich damit nicht sagen. Ich sehe in diesem Punkt Potenzial für jede Gruppe. Die Frage ist: Setzen die Spieler etwas um, weil der Trainer es Ihnen sagt? Oder setzen sie es um, weil es von ihnen selbst kommt? Das möchte ich erreichen: Dass das Team das Gefühl hat, was es tut, das tut es in erster Linie für sich als Gemeinschaft.
Amerikanische Sportler sind berühmt dafür, einen Großteil ihrer Leistungen nicht nur zu erreichen, weil sie in etwas gut sind, sondern weil sie mit Kampfgeist, Teamspirit und Selbstbewusstsein über sich hinauswachsen. Ist das der Grund für Ihre Akzentuierung von Teamgeist und Mentalität?
Ich denke schon, ich bin ja Amerikaner (lacht). Im Ernst, alles, was wir erreichen können, wird über die richtige Einstellung entschieden. Das war immer der Vorteil von uns Amerikanern im Sport. Ich habe vieles in Europa über den Fußball gelernt. Hier zu sein, ist ein großer Fortschritt für mich. Was ich aber zusätzlich einbringen kann, ist das Amerikanische in mir: Wir verspüren keinen Druck, wir haben keine Angst, wir können alles schaffen, es gibt keine Limits. Wir müssen es nur gemeinsam tun.
Kinder in den USA wachsen mehr oder weniger als Sportler auf. Viele betätigen sich früh und das oft nicht nur in einer Sportart. Wie war das bei Ihnen?
(lacht) Ich habe Eishockey, Basketball, Tennis, ein bißchen Baseball gespielt.
Fußball nicht?
Doch, na klar.
Zu Ihrer Zeit herrschte in den Highschools die Anschauung, dass nur Nerds Fußball spielen.
Ja, das war so. Wir haben von den Jungs, die American Football gespielt haben, auch immer mal Prügel bezogen. (lacht)
Sie haben Red Bull New York trainiert, waren zuvor Co-Trainer der US-Nationalmannschaft, danach ein Jahr Co-Trainer in Leipzig, anschließend zwei Jahre Cheftrainer in Salzburg. Jetzt sind Sie verantwortlicher Coach eines deutschen Vizemeisters und Champions-League-Teilnehmers. Wachen Sie manchmal nachts auf und denken, wow, das ist alles ganz schön groß?
Dieses Gefühl hatte ich manchmal, als ich aus den USA nach Europa kam. Aber jetzt ist es anders. Wir hatten Erfolg in Leipzig, ich hatte Erfolg in Salzburg. Ich empfinde meine Situation eher als: Okay, das ist jetzt mein Lebensweg. Ich habe Respekt vor der Aufgabe, aber keine Ehrfurcht, wenn Sie das meinen. Für mich ist das die nächste Herausforderung als Trainer. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Als Oliver Mintzlaff Ihnen den Job angeboten hat, haben Sie gezögert oder sofort Ja gesagt?
Man muss wissen, Oliver hatte mich bereits 2015 in New York als Trainer eingestellt. Wir kennen uns also schon sehr lange. Er hat sich damals sehr um uns gekümmert, war immer vor Ort, ist hin und hergeflogen. Mit ihm zusammenzuarbeiten ist deshalb etwas ganz Besonderes. Wir haben viel Vertrauen zueinander.
Sie haben einen Zweijahresvertrag unterschrieben. Das zeugt von Vertrauen, aber keinem übergroßen.
Das ist für mich absolut okay. Ich spüre total das Vertrauen des Vereins.
"Wir können viel Spaß haben"
Wie schätzen Sie Ihren Kader ein, sagen wir als Realist, nicht als Optimist. Was kann man mit ihm erreichen?
Die Potenziale der Spieler sind enorm. Ich finde, wir haben den vielleicht qualitativ breitesten Kader der Liga. Im Grunde genommen könnten wir zwei Bundesligamannschaften stellen. Wenn es uns gelingt, dieses Potenzial komplett zu entfalten, dann können wir zusammen viel Spaß haben.
Sie haben mit Alexander Sörloth, Yussuf Poulsen, Hee-chan Hwang, André Silva und Brian Brobbey fünf klassische Stürmer im Team. Sind das zu viele oder ist das die Anzahl, die sie sich wünschen?
Vier Stürmer wären gut um jede Position doppelt zu besetzen. Ich denke, wir finden eine Lösung.
Sie haben trotzdem vermutlich nur zwei Plätze in den Startformationen.
Alle meine Stürmer müssen wissen, dass es nicht nur ums Toreschießen geht, sondern wir brauchen vorn drin viel Power, Mentalität, um ins Gegenpressing zu finden und Druck auf die Verteidiger auszuüben. Man kann sich also 60, 70 Minuten voll verausgaben und dann kommt der nächste rein. Gerade, wo wir mittlerweile fünf Mal wechseln dürfen, wird die Bank gebraucht und jeder bekommt seine Chance.
Was passiert mit Marcel Sabitzer? Der Kapitän hat nur noch ein Jahr Vertrag und erwägt einen letzten großen Wechsel in seiner Karriere. Haben Sie mit ihm darüber schon gesprochen?
Ja, wir haben zuletzt viel miteinander geredet. Es ist für einen Spieler nie einfach, wenn er nur noch ein Jahr Vertrag hat. Ich habe aus der Vergangenheit eine gute Beziehung zu ihm, so wie er sie in den vergangenen zwei Jahren zu Julian Nagelsmann hatte. Ich schätze das, aber jetzt beginnt eine neue Zeit. Er ist ein guter Typ, er macht alles für die Mannschaft. Alles weitere wird man sehen.
Wenn er Ihnen erhalten bleibt, wo stecken Sie ihn hin. Auf die Sechser-Position vor der Abwehr so wie oft unter Nagelsmann oder als hängenden Spielmacher auf die Acht bzw. auf die Zehn?
Ich finde, Sabi kann wirklich alles spielen. Er ist so intelligent. Ich finde ihn auch als zentralen Zehner gut, das hat er in einem 4-2-3-1 ja auch mit Österreich bei der EM gespielt. Aber ich denke, die Sechs oder Acht, das passt gut zu ihm. Wir haben so viele gute Mittelfeldspieler, das ist schon Wahnsinn!
Zu Ihrer Zeit als Assistent von Ralf Rangnick, spielte Sabitzer meist auf dem rechen Flügel. Haben Sie noch Kontakt zu Ihrem ehemaligen Chef?
Ja. Wir schreiben uns manchmal, er hat mich beglückwünscht und mir Erfolg gewünscht.
Man könnte aufgrund ihrer gemeinsamen Vergangenheit und Rangnicks Fachwissen denken, dass Sie sich intensiver austauschen?
Es war zuletzt in Salzburg nicht mehr so oft der Fall. Da waren es eher mal ein paar Glückwunsch-Nachrichten nach erfolgreichen Spielen. Aber ich schätze meine Beziehung zu ihm.
Der Auftakt in die Saison ist herausfordernd. Auf Sandhausen im Pokal, Mainz und Stuttgart in der Liga folgen die Spiele gegen Wolfsburg und die Bayern. Ist das gut oder schlecht für den Beginn Ihrer Arbeit?
Es ist super! Dann sind wir sofort on fire! Ich freue mich grundsätzlich immer auf die schweren Spiele, denn dann erst lernt man sein Potenzial und seine Limits kennen.
Können Sie sich ein paar Niederlagen zu Beginn leisten?
Nein. Ein guter Start wird ganz wichtig für uns. Jede Mannschaft wird mal ein Tief in der Saison haben, es wäre gut, wenn das bei uns nicht zu tief ausfällt und vor allem nicht gleich beim Start.
Das Gespräch führte Martin Henkel