Marco Rose im großen Interview „Dieser Mannschaft traue ich alles zu!”
Klarer Blick, fester Händedruck: Marco Rose hat Präsenz und strahlt Verbindlichkeit aus, das spürt man auch bei Interviews. Der Trainer von RB Leipzig nahm sich in der ersten Woche nach dem Aufhol-Marathon eine halbe Stunde Zeit, um mit den MZ-/RBlive-Reportern Martin Henkel und Ullrich Kroemer über die umstrittene WM in Katar, den Ausfall von Star Christopher Nkunku und die wundersame Verwandlung seiner verunsicherten Mannschaft zurück in ein Spitzenteam zu sprechen.
Herr Rose, an diesem Sonntag hat die WM begonnen. Freuen Sie sich drauf?
Marco Rose: Ich bin gespannt und hoffe, dass wir viel über Sport reden, eben weil es eine Fußball-WM ist. Aber das Ganze wird eine große Überraschungskiste.
Am Mittwoch startet Deutschland ins Turnier. Werden Sie hinschauen?
Als wir das Training für diese Woche geplant haben, sagte plötzlich Freddy Gößling (Torwarttrainer, Anm. Red.) zu mir: ‚Du, Marco, Deutschland spielt 14 Uhr, wir haben 15 Uhr Training.‘ (lacht) Also ja, ich gucke mir das an, schaue vor allem auf unsere Jungs hier von RB und natürlich gern Deutschland. Aber das erste Spiel hätte ich jetzt schon mal verpasst.
Sie haben das Training verlegt?
Haben wir. Aber an die Anstoßzeit 14 Uhr unserer Zeit – da muss ich mich dran gewöhnen.
Was trauen Sie der DFB-Elf zu?
Wie immer, ne Menge! Ich denke, die Verletzung von Timo Werner ist nicht ohne. Aber ich finde es top, dass Mario Götze wieder dabei ist, einfach weil Leistung belohnt wird.
Rose über Katar 2022: „Mich irritiert der grundsätzliche Umgang mit der WM”
Gibt es andere Teams, die Sie interessieren?
Ja, Argentinien, weil ich Trainer Lionel Scaloni persönlich kenne. In Europa bin ich gespannt, wie Belgiens „Goldene Generation“ sich am Ende ihrer Ära so schlägt. Frankreich natürlich, England mit Jude Bellingham. Also die Teams mit Akteuren, die ich persönlich kenne. Ich drücke zum Beispiel Ghana mit Otto Addo, den ich aus Dortmund kenne, auch sehr die Daumen.
Sie haben es angesprochen, die WM in Katar wird begleitet von vielen Debatten über die Menschenrechtslage vor Ort, die Art der Vergabe des Turniers, die vielen Toten auf den Baustellen. Was sehen Sie konkret auf das Turnier, die Teams und das Ausrichterland zukommen?
Fakt ist, dass wir alle empfinden – auch die, sich vor Ort kein Bild machen konnten –, dass die WM nicht am richtigen Fleck stattfindet. Aber das wurde vor zwölf Jahren entschieden. Da war etwa David Raum (Nationalspieler von RB, Anm. Red.) zwölf Jahre alt. Jetzt ist er vor Ort, und man erwartet, dass diese Spieler sich politisch oder moralisch äußern. Das ist nicht ihre allererste Aufgabe. Nicht falsch verstehen: Ich finde es wichtig, dass wir unsere Meinung kundtun. Aber es gibt sicher auch in Katar und der Region ein paar richtig feine Menschen, denen man nicht gerecht würde, wenn man ihre WM jetzt zum Beispiel boykottieren würde.
Inwiefern?
Boykott bedeutet für mich Ignoranz. Und für einen Boykott hatten wir zwölf Jahre Zeit. Wenn man Dinge ändern will, die in Katar passieren und die man anprangert, dann darf man sie nicht ignorieren, sondern muss Dialoge führen und sich damit auseinandersetzen. Mich irritiert der grundsätzliche Umgang mit der WM gerade ein bisschen, was jetzt alles auf dieses Turnier einprasselt. Aber natürlich wünsche ich mir, dass um den Fußball herum Dinge im Land angestoßen werden, dass die Menschenrechts-Situation in Katar beispielsweise grundlegend besser wird. Das ist doch klar.
Rose kritisiert Überbelastung: „Noch mehr Spiele als gewohnt durchgeprügelt”
Das Turnier findet im Winter statt, die Temperaturen sind dennoch hoch. Hätte man das vor langer Zeit als unzumutbar unterbinden müssen?
Schwierig. Die Bedingungen sind für die Spieler herausfordernd, ja. Man hat es beim Test der Deutschen gegen den Oman gesehen, dass das Thema Klima eine große Rolle spielen wird. Das konnte man den Jungs sogar durch den Fernseher hindurch ansehen. Auf der anderen Seite: Das ist eine Weltmeisterschaft, und dann sollten auch alle Länder und Regionen der Welt die Chance haben, sie auszutragen. Das Wetter stört mich gar nicht so sehr.
Sondern?
Dass man im Vereinsfußball im Vorfeld kaum Rücksicht darauf genommen hat, in welcher Verfassung die Spieler dort ankommen, im Gegenteil, noch mehr Spiele als gewohnt durchgeprügelt hat. Ich glaube nicht, dass wir viele Hochglanzpartien sehen werden. Es wird vermutlich das Team gewinnen, welches am Ende noch die meisten Körner hat und am besten mit den Bedingungen vor Ort zurechtkommt.
WM-Aus für Nkunku: „Für Christo ist das ein schwerer Schlag
Ihr Spieler Christopher Nkunku hätte für Furore sorgen können. Was empfinden Sie, wenn Sie an seinen Ausfall denken?
Das ist sehr hart für Christo. Bei Timo Werner ist es ja dasselbe. Wenn du so eine Saison spielst, in absoluter Topverfassung bist wie er, und kommst dann mit deinem Verein auch noch unbeschadet durch den Spiele-Block und bist fast schon vor Ort – dann ist das mega bitter!
In welcher Rolle stehen Sie gerade zu ihm?
Es geht um mehr als das Verhältnis zwischen Coach und Spieler. Das sind meine Jungs, ich leide und freue mich mit ihnen. Für Christo ist das ein schwerer Schlag, keine Frage. Jetzt ist es wichtig, dass er Menschen hat, die ihn auffangen. Auch hier bei RB, wir sind seine Fußballfamilie.
Wie bewerten Sie den Ausfall sportlich?
Fakt ist, dass Christo für uns ein Spieler ist, den wir schwer ersetzen können. Wir werden aber Mittel und Wege finden, dass in den Spielen aufzufangen, in denen er fehlt. Das ist uns in dieser Saison schon mehrfach gelungen. Aber wenn dir ein Nkunku und ein Werner gleichzeitig wegbrechen, dann tut das weh, auch wenn Yussi wieder fit ist und André zuletzt tolle Spiele gemacht hat.
Keine Wintertransfers bei RB Leipzig geplant
Werden Sie im Winter nochmal auf dem Transfermarkt tätig werden, auch von den zwei Ausfällen abgesehen? Ihr Kader ist nicht sehr groß.
Wir gehen das ganz ruhig und gelassen an. Wir haben die Verantwortung, unsere Ziele mit allem, was dazugehört, zu verfolgen. Dazu gehört immer die Transferplanung. Aber wir haben im Winter keinen Stress, weil wir sehr gut aufgestellt sind. Den Sommer haben wir allerdings schon im Blick.
Es heißt, RB sei interessiert, Abdou Diallo fix von Paris Saint-Germain zu verpflichten.
Abdou ist ein riesen Typ und guter Fußballer, der eine Mannschaft führen kann. Er ist im besten Alter. Wir denken sehr gerne darüber nach, ihn länger an Leipzig zu binden. Man merkt, dass er sich hier wohlfühlt. Aber grundsätzlich ist das noch sehr früh und zu einem Transfer gehören immer mehrere Parteien.
Als Sie RB Leipzig übernahmen, war die Mannschaft komplett verunsichert hinsichtlich des Spielstils. Jedem Spieler stand ein großes Fragezeichen auf der Stirn. Wie sind Sie diese Aufgabe angegangen?
Wir haben eine intakte Mannschaft übernommen und hatten keinen Masterplan, aber natürlich eine Idee, wie wir die Gruppe führen wollen. Das Wichtigste ist für mich, dass wir mit Menschen arbeiten und eine Gruppe davon überzeugen müssen, dass das funktionieren kann, was wir vorgeben. Es gibt Grundsätze, nach denen man arbeitet und handelt – im täglichen Umgang miteinander, durch die eine Mannschaft funktioniert. Wir hatten große Lust auf die Aufgabe und waren von Anfang an optimistisch.
Neues Kabinenklima: „Keine Missgunst, kein Neid”
Wie haben Sie es geschafft, dass die Spieler Ihnen vom ersten Spiel gegen Dortmund an gefolgt sind?
Wir haben Inhalte konsequent eingefordert und uns war klar, dass es nur über die Gemeinschaft geht. Wenn wir nicht ausstrahlen, dass wir als Mannschaft auftreten, wird es schwierig. Die Jungs haben schnell gemerkt, dass dieses Auftreten ein Schlüssel sein kann. Gleichzeitig musst du auch Freiraum lassen für besondere Momente und besondere Spieler. Klar, Siege helfen natürlich auch, aber wenn jeder grundsätzlich gern mit jedem zusammenarbeitet, schafft das eine vertrauensvolle Atmosphäre, das macht dich gelassener und entspannter. Wir wollen alle jeden Tag dafür arbeiten, dass wir genau diese Atmosphäre schaffen und keine Missgunst, kein Neid herrschen, sondern dass man sich zusammen freut und miteinander leidet. Daraus entstehen auch Rituale, die dieses Gefühl widerspiegeln.
Welche zum Beispiel?
Bevor wir die Kabine zum Warm-Up verlassen, spielen die Jungs jetzt immer als letztes die RB-Hymne „Stolz des Ostens“. Ich habe gehört, dass Christo Nkunku das eingeführt hat. Das sind Kleinigkeiten, die nach und nach wachsen.
Die Verwandlung nach dem 1:4 gegen Donezk und Ihrem Einstand beim 3:0 gegen den BVB war verblüffend.
Das geht auch nur, wenn du eine intakte Mannschaft vorfindest. Wir haben uns jedoch vorgenommen, anders aufzutreten, wieder aktiver und zielgerichteter Fußball zu spielen, höher zu attackieren. Das ist den Spielern entgegengekommen. Ich kann sofort zehn aufzählen, die mit diesem Stil groß geworden sind und diesen Fußball lieben. Mindestens ebenso wichtig war aber die Reaktion nach dem 0:3 gegen Gladbach am Ende unserer ersten Woche.
Nämlich?
Wir haben nach dem Spiel intern über unsere Ausstrahlung und Körpersprache geredet. Egal, ob du mal ein Spiel verlierst: Wir wollen nicht, dass der Gegner mehr Energie, Gemeinschaft und Überzeugung aus Feld bringt. Wenn wir ein Spiel verlieren, dann nur, weil der Gegner an dem Tag klar besser war oder wir unseren Plan nicht komplett umsetzen konnten.
So triggerte Rose die Spieler im ersten Training
Ein Schlüsselmoment, um danach die Serie zu starten?
Es gab eine Menge Schlüsselmomente. Schon unser erstes Training war ein Schlüsselmoment. Wir haben in Turnierform Sechs gegen Sechs spielen lassen und die Jungs mit ein paar Regeln getriggert. Wir wollten, dass sie direkt den ersten Ball attackieren und nicht warten, bis irgendetwas passiert. Auch deswegen sind wir gegen Dortmund so aufgetreten, wie wir aufgetreten sind.
Welche noch?
Dann war es zum Beispiel wichtig, dass wir mit einem Sieg gegen Bochum aus der Länderspielpause gekommen sind, dann der erste Champions-League-Erfolg gegen Celtic. Dann wächst der Glaube und die Überzeugung. Ich glaube, 90 Prozent der Spieler hatten das Gefühl, dass sie mitgenommen werden und Einsatzzeiten bekommen. Ein paar, die mit ihrer Einsatzzeit unzufrieden sind, hast du immer, das ist klar.
„Wir haben noch kein richtiges Ziel erreicht”
Dass Sie als Leipziger in Leipzig einen Spitzenklub trainieren können, ist außergewöhnlich. Welche erste Bilanz ziehen Sie nach zweieinhalb Monaten?
Ich bin unglaublich gern in meiner Heimatstadt, kenne den RB-Kosmos, fühle mich sehr wohl im Verein. Es fühlt sich bis jetzt richtig gut an, hier zu arbeiten und jeden Abend zu Hause sein zu dürfen. Aber wir dürfen nicht mehr aus den letzten Wochen machen, als es ist. Wir haben noch kein richtiges Ziel erreicht, haben noch einen weiten Weg vor uns. Mir ist wichtig, dass wir gerade in Phasen, in denen es gut läuft, eine gewisse Demut walten lassen, aber gleichzeitig eine Menge Mut und Vertrauen mitnehmen in die nächste Phase, die auf uns wartet. Es war mir bei meiner Entscheidung für RB wichtig, dass der Klub große Ziele hat.
Zum Jahresauftakt kommt der FC Bayern nach Leipzig. Was ist in der Bundesliga nach oben aus Ihrer Sicht möglich und realistisch?
Ganz ehrlich: Wenn in unserem Kader alle gesund sind, traue ich dieser Mannschaft alles zu! Mir ist wichtig, dass wir immer ambitioniert sind und versuchen, jedes Spiel in der Bundesliga zu gewinnen – egal, gegen wen es geht.