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Mythos San Siro Eine der letzten Pilgerstätten des Fußballs

Bald soll auf dem Grund des San Siro ein neues Stadion stehen. Schade, denn der Koloss hat Charakter und Charme.

Von Ullrich Kroemer 26.11.2024, 05:00
Der Tempel im Nebel: San-Siro-Stadion am Montagabend.
Der Tempel im Nebel: San-Siro-Stadion am Montagabend. (Foto: imago/Picture Point LE)

Mailand – Mailand liegt bekanntlich nicht am Meer. Doch die gewaltigen roten Eisenträger, die das Dach des Guiseppe-Meazza-Stadions stützen, ragen an den Ecken des Fußballtempels hervor, wie die Hebekräne einer Werft. Durch die elf runden Betontürme, die das Stadion – besser bekannt unter dem Namen San Siro, wie das gleichnamige Stadtviertel – stützen, sieht der 75.000-Zuschauer-Koloss gleichzeitig aus wie eine Trutzburg. Und durch die geschwungen gestaltete Schüssel im Inneren hat der zeitlos elegante Rohbetonbau auch etwas von einem Kunstmuseum.

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Keine Frage, die 1926 erbaute und zur Weltmeisterschaft 1990 umgebaute „Scala del Calcio“ – Opernhaus des Fußballs, wie die Mailänder sagen – ist schon von außen eines der beeindruckendsten Stadien der Welt. Eine der letzten großen, traditionellen Pilgerstätten des Fußballs inmitten vieler seelenloser moderner Raumschiffe. In der Fußballkneipe „Baretto 1957" gleich neben dem Stadion, wo auch viele Handwerker einen Mittagssnack nehmen, werden Fans beider großer Mailänder Klubs bedient, „einen Spieltag so, den anderen so”, sagt der Wirt.

Inzaghi: „Der Mythos San Siro ist ein weiterer Anstoß für uns”

Wer es erleben will, sollte sich beeilen, denn wie im Herbst bekannt wurde, planen die Stadt und die Mailänder Klubs einen Neubau an gleicher Stätte. Die beste Gelegenheit für Fußballanhänger aus Mitteldeutschland bietet sich freilich an diesem Dienstag (21 Uhr), wenn RB Leipzig zu Gast bei Inter ist. Dabei müssen sich die kriselnden Leipziger nicht nur formstarker „Nerazzurri” auf dem Platz erwehren, sondern auch der besonderen Magie dieses Stadions. „Der Mythos San Siro ist ein weiterer Anstoß für uns, Leistung zu bringen, das spüren wir, die Mannschaft und ich, wir werden immer mit einbezogen“, sagte Inter-Trainer Simone Inzaghi am Montag auf MZ-Nachfrage. „Hoffentlich bleiben wir sehr lange hier.”

Denn noch ist nicht sicher, wie es mit dem San Siro weitergeht. Laut aktueller Planung wollen die beiden Nutzer Inter und AC Milan – auch das ist einzigartig – bereits beiseite gelegte Pläne eines Neubaus auf dem aktuellen Gelände wiederauflegen. Der zuvor geplante Abriss des Wallfahrtsortes für Fußballfans weltweit samt Neubau zweier eigener Stadien an anderen Orten war zuletzt von der Stadt aufgrund des „kulturellen Interesses“ abgelehnt worden.

Lothar Matthäus über das San Siro: „Für immer mein Wohnzimmer”

Für alle Fußballromantiker ist das eine gute Nachricht, denn der Rasen im San Siro ist geweihter Boden. Da eben gleich zwei Topklubs dort spielen – mit eigenen Kabinen und gegenüberliegenden Fankurven Curva Nord (Inter) und Curva Sud (AC) – gilt das „Meazza” auch als titelreichstes Stadion der Welt. Inter Mailand selbst (1965) und Feijenoord Rotterdam (1970) wurden hier Europapokalsieger der Landesmeister; Bayern München (2001) und Real Madrid (2016) Champions-League-Sieger.

Aus deutscher Sicht erlangte das San Siro bei der WM 1990 Kultstatus, als die deutsche Mannschaft hier gleich fünf WM-Spiele inklusive des legendären Achtelfinales gegen die Niederlande austrug, als Frank Rijkaard Rudi Völler bespuckte. Der damalige Kapitän Lothar Matthäus, der auch für Inter Mailand spielte, erinnerte sich jüngst im Gespräch mit der Kronen-Zeitung: „So wie für Boris Becker Wimbledon wird für mich das San Siro immer mein Wohnzimmer sein. Ich habe hier die geilsten Jahre meiner Karriere erlebt. Auch die Liebe und Zuneigung der Fans habe ich richtig gespürt, wusste daher: In diesem Stadion kann ich alles erreichen.” So wie schon 1989, als „Grande Lothar” gegen Verfolger Neapel und Diego Maradona den 2:1-Siegtreffer erzielte und Inter damit zum Meistertitel schoss.

Inzaghi: „Gerade jetzt mehr Gas geben”

Nach schwächeren Jahren ist Internazionale unter Simone Inzaghi, Bruder des als Spieler bekannteren Filippo Inzaghi, wieder zurück in Europas Elite. Der italienische Meister strotzt aktuell nur so vor Kraft. Laut einem aktuellen Ranking von Statistikanbieter Opta, in dem 13.000 Klubs miteinander verglichen werden, hat der italienische Meister den FC Liverpool überholt und ist nach Lage der Daten der weltbeste Klub. RB liegt in der Liste übrigens auf Platz 24.

„Natürlich habe ich diese Statistik gesehen, sie ist gut, aber es ist nur eine Statistik. Wir arbeiten daran, die Fans und den Verein zufriedenzustellen und Trophäen zu gewinnen”, sagte Inzaghi. Der smarte 48-Jährige verband die Auszeichnung gleich mit einer Forderung an sein Team: „Wir müssen immer härter arbeiten, wir erleben einen positiven Augenblick, aber müssen gerade jetzt noch mehr Gas geben.”

In den bisherigen 17 Saisonspielen hat Inter nur eines verloren – ausgerechnet das „Derby della Madonnina“ gegen Milan. Sonst reiten die „Nerazzurri” eine Erfolgswelle, sind auch in der Champions League noch ungeschlagen. „Wir haben schon gegen starke Gegner gespielt, haben zehn Punkte, wir brauchen noch drei ”, sagte Linksverteidiger Federico Dimarco. RB ist noch punktlos. Angesichts der Dominanz und Konstanz des lombardischen Gegners sowie des spielerischen und kämpferischen Abwärtstrends der Gäste aus Sachsen wäre bereits ein Punkterfolg gegen im mythischen San-Siro-Stadion eine Riesen-Überraschung.