Fanexperte Gabler Über Pyrotechnik bei RB „Ideale der Ultrakultur”
Update: Aus aktuellem Anlass haben wir ein Interview aus dem Jahr 2019 mit dem Fanexperten Jonas Gabler aus dem Archiv geholt. Viele seiner Aussagen, die nach dem Pyro-Vorfall bei RB 2019 in Paderborn getroffen wurden, sind nach wie vor aktuell.
Das war die Berichterstattung aus dem Jahr 2019:
Die Rauchschwaden der Pyrotechnik-Aktion einiger RB-Fans in Paderborn am vergangenen Samstag waren nach ein paar Minuten verzogen. Doch Ärger und Aufregung darüber schwelen weiter in der Leipziger Fanszene (siehe Thread). Der Fanverband, der Pyrotechnik klar ablehnt, kündigte auf Anfrage eine Stellungnahme in den kommenden Tagen an.
Zu den Fakten: Pyrotechnik in Fußballstadien zu zünden, ist in Deutschland von Gesetzes wegen verboten und wird durch den Deutschen Fußball-Bund (DFB) rigide sanktioniert. Mehr als zwei Millionen Euro Strafe mussten die Vereine von Bundesliga bis 3. Liga allein in der Saison 2018/19 an den DFB zahlen. Im Zeitraum der Spielzeiten 2013/14 bis 2017/18 wurden laut Zahlen der Zentralen Informationsstelle Sporteinsätze (ZIS) von Bundesliga bis 3. Liga 510 Personen von insgesamt über 204 Millionen Zuschauern verletzt. Erfasst sind jedoch nur jene, die sich bei der Polizei als verletzt meldeten. Die Dunkelziffer liegt deutlich höher. Auch sogenannte „kalte Pyrotechnik” – die nicht 2000, sondern etwa 200 bis 500 Grad erreicht – ist in Deutschland anders als etwa in Dänemark nicht zulässig. „Die Bundesregierung steht der Nutzung auch der ,kalten Pyrotechnik' in Stadien durch Zuschauer ablehnend gegenüber", heißt es auf die Anfrage der Leipziger Grünen-Politikerin Monika Lazar (MdB) aus dem Innenministerium.
Der Politikwissenschaftler Jonas Gabler, Geschäftsführer der Kompetenzgruppe Fankulturen (KoFas) aus Hannover und Autor des Standardwerkes Die Ultras – Fußballfans und Fußballkulturen in Deutschland, schätzt die Pyro-Debatte hierzulande im Gespräch mit Mitteldeutscher Zeitung/RBlive ein und bewertet die Entwicklung der Fankultur bei RB Leipzig.
Herr Gabler, Gespräche zwischen DFB und Ultravertretern über Pyrotechnik sind 2011 geplatzt. Wie ist der status quo bei dem Thema?
Jonas Gabler: Politik und Verbände haben ein starkes Interesse daran, dass Pyrotechnik verboten bleibt. Selbst wenn legale Wege gefunden werden wie jüngst in Karlsruhe – als zum Abschied des Wildparkstadions mit Polizei und Feuerwehr abgesprochen war, kontrolliert Pyrotechnik zu zünden – sanktioniert der DFB das. Bei den Vereinen macht sich nach 25 Jahren das Gefühl breit, dem Problem trotz intensiverer Kontrollen und besser geschulter Ordner nicht Herr zu werden. Bei einigen Vereinen wie eben zum Beispiel dem KSC und dem Hamburger SV gibt es zaghafte Versuche, Pyrotechnik kontrolliert zuzulassen, um damit eine Alternative zu dem illegalen und gefährlicheren Gebrauch zu bieten.
Gegen die aktuelle Marschroute von DFB und Politik?
Einige Klubs sind zu der Erkenntnis gelangt, dass man mit Bestrafung und Kontrollen das Problem nicht in den Griff bekommt und versuchen, andere Wege zu gehen und legale Pyrotechnik-Veranstaltungen zuzulassen. Dem steht aktuell aber die Rechts- und Verfahrensordnung des DFB entgegen.
Wie entwickeln sich Faszination und Häufigkeit in den Fanszenen?
Seit 2011, als es die große Kampagne „Emotionen respektieren, Pyrotechnik legalisieren” gab, ist Pyrotechnik in fast allen Ultraszenen hierzulande in der Breite angekommen. Seitdem sind Häufigkeit und Faszination ungebrochen hoch. Damals wurde allerdings in den Ultraszenen großer Wert darauf gelegt, dass das geordnet abgebrannt wird, dass man keine Böller verwendet und nicht mit Raketen schießt. Sich an solche Regeln zu halten, ist mit dem Scheitern des Dialogs mit dem DFB eingebrochen. Der Gebrauch von Raketen oder Würfe mit Pyrotechnik sind heute häufiger zu beobachten, so wie jüngst beim Berliner Derby. Der Gebrauch von Pyrotechnik ist gefährdender geworden.
Gibt es aktuell Gespräche zwischen Fanbündnissen und DFB/DFL?
Das Thema Pyrotechnik ist auf der Metaebene immer aktuell. Aber es gibt aktuell keine konkreten Gespräche, weil die Verbände Pyrotechnik nicht gestatten wollen. Der DFB ist im Gegenteil sehr restriktiv, wenn es darum geht, legale Möglichkeiten des Abbrennens von Pyrotechnik zu gestatten – zumindest wenn Fans involviert sind.
Dialog als Beteiligungsverfahren begreifen
Jonas Gabler, Ultra-Experte und Politikwissenschaftler
Wie ordnen Sie es ein, dass seit etwa anderthalb Jahren auch in der Fanszene von RB Leipzig Pyrotechnik gezündet wird, obwohl das nicht Konsens in der Kurve ist?
Manche mag es vielleicht überraschen, dass sich auch bei RB Leipzig eine Fankultur herausbildet, die sich an den Idealen der Ultrakultur orientiert. Ich bin darüber nicht wirklich erstaunt. Es war klar, dass sich auch bei RB Leipzig junge Fußballfans davon angesprochen fühlen, was Ultras ausmacht: der rebellische Habitus, unangepasst zu sein, für starke Identität mit Verein und Stadt zu stehen und dadurch Reibung zu erzeugen. Das ist für viele junge Menschen attraktiv. Weil viele Fans dieser Fankultur bei RB eher kritisch gegenüberstehen, hat es eine Weile gedauert, bis die Jungen sich das getraut haben. Dieser Punkt war irgendwann erreicht. Dabei spielen möglicherweise auch Konfliktlinien mit dem Klub oder der Wunsch nach größerer Distanzierung zu anderen Fangruppen eine Rolle.
Auch wegen anderer Probleme wie dem Verhalten untereinander in der Kurve oder der Ansprache der Capos gibt es aktuell heftige Diskussionen in der Leipziger Fanszene. Eine normale Entwicklung, die eigentlich kaum zu verhindern ist?
Das sind typische Themen, die bei jedem Verein zu Konflikten führen, weil es unterschiedliche Prioritäten gibt. Dem einen ist wichtig, als Fanszene sichtbar zu sein und Fahnen zu schwenken. Der andere möchte lieber das Spiel sehen. Je länger der Klub besteht, wird auch RB mit den gleichen Konflikten, Problemen und Herausforderungen, die in Fanszenen entstehen, konfrontiert werden wie die Traditionsvereine auch. Fankultur entwickelt sich ständig weiter, das hat auch mit einem Generationswechsel zu tun. Bei älteren Vereinen haben viele dieser Prozesse schon stattgefunden, sodass die Fanszenen geordneter sind. Bei RB findet das offenbar gerade statt.
Welche Handlungsempfehlung haben Sie beim Umgang mit Pyrotechnik?
Dem Problem Pyrotechnik wird man nicht beikommen, indem Vereine bestimmte Fangruppen ausschließen. Das Wichtigste ist, dass alle Parteien miteinander im Dialog bleiben und diesen Dialog auch als Beteiligungsverfahren begreifen. Alle Fans in der Kurve wirken daran mit, Fankultur zu gestalten. Da spielen Verhaltensregeln ebenso eine Rolle wie Pyrotechnik oder Umgang mit Diskriminierung. Die Vereine sind gut beraten, da einerseits eine moderierende Rolle einzunehmen, um den Dialog zu befördern, und andererseits auch unmissverständlich, aber fair Grenzen zu kommunizieren.
(RBlive/ukr)