RB IM MYTHISCHEN "MARAKANA" Schläge auf den Spielertunnel
Die Nordkurve erinnert an einen Ameisenhaufen. Junge Männer in schwarzen Trainingsanzügen mit rot-weißem Stern auf der linken Brust laufen zwischen den Sitzschalen umher, orientieren sich an Plänen in ihren Händen, legen Plastikblätter ab, kleben sie an die Rückenlehnen. Den Rest muss man sich denken.
RB im Marakana: Bengalos und Choreo
Einen Tag vor dem Champions-League-Duell zwischen RB Leipzig und Roter Stern in Belgrad heute Abend (21 Uhr) gehen die Vorbereitungen für die Partie in die heiße Phase. Die Choreo wird sich über die komplette Nordkurve ziehen, erzählt man sich. Die Bengalos, die das Spektakel begleiten werden, dürften ebenfalls bereits an ihren Plätzen sein. Der Tross aus Leipzig kann sich also auf etwas gefasst machen.
Das Rajko-Mitic-Stadion und seine Fans sind eine Legende im europäischen Fußball. Mit einem früheren Fassungsvermögen von knapp 100.000 Zuschauern gehörte die Arena auf dem Topcider Hügel einst zu den Monumentalbauten des Weltfußballs. Sie war Heimstätte für historische Spiele wie das Finale im Europapokal der Landesmeister 1973 zwischen Ajax Amsterdam und Juventus Turin (1:0) oder dem Finale der Europameisterschaft 1976, in dem der Tscheche Antonin Panenka mit seinem denkwürdigen Lupfer-Elfmeter die deutschen Weltmeister im Elfmeterschießen besiegte.
Hier erlebten auch die Bayern eines ihrer ewig erinnerten Spiele, als Torhüter Raimund Aumann sich in der letzten Minute des Halbfinales eine Bogenlampe von Klaus Augenthaler zum 2:2 ins Netz legte. Mit dem Remis zog Roter Stern damals ins Finale des Landesmeister-Cups ein, wo es Olympique Marseille im Elfmeterschießen 5:3 bezwang.
100 Pokale hinter Glas
Der Sieg im Vorgänger-Wettbewerb der heutigen Champions League wird beim serbischen Rekordmeister fast religiös verehrt. Im Museum des Clubs thront eine Kopie des Pokals auf einem stilisierten Hügel auf dem Gipfel, in Begleitung der Trophäe im Weltpokal ein Jahr später. Drumherum sind weitere 98 Pokale hinter Glas aufgestellt.
Das Museum wirkt wie ein Mausoleum früherer Erfolge. Bis zum Zusammenbruch Jugoslawiens galt Roter Stern als europäische Großmacht mit seinen 29 Teilnahmen im Landesmeister-Pokal sowie der Champions League, sechs Teilnahmen im Europapokal der Pokalsieger und ebenfalls 29 im Uefa-Pokal.
Gefürchtet war der 33-fache jugoslawische und serbische Meister vor allem für seine Heimspiele im „Marakana“, wie das 1963 eröffnete Stadion auf Grund seiner schieren Größe in Anlehnung an das Maracanã in Rio de Janeiro genannt wird. Bruno Galler, Schiedsrichter im Bayern-Spiel gegen Roter Stern 1991, erinnert sich im Gespräch mit der MZ an eine „gewaltige Atmosphäre – laut und pulverisiert“. Der heute 77 Jahre alte Schweizer kam damals in Nahkontakt mit dem serbischen Enthusiasmus, als er „wie eine besondere Fracht“ auch zum Essen von Polizisten eskortierte wurde. „Man hat damals auf dem Weg dahin sogar den Verkehr vor uns angehalten.“
Ex-Profi Stepanovic: fünf Stunden in der Kabine
Auch Dragoslav Stepanovic kann Hymnen auf das „Marakana“ singen. Der frühere Trainer u.a. von Eintracht Frankfurt, war 1973 bis 1976 Spieler bei „Crvena Zvezda“. Gegenüber der MZ schildert er, welche Wirkung die Fans auf die Spieler entfalten – früher die offiziell 80.000, heute sind es 55.000. „Solche Fans gibt es nicht oft in Europa“, sagt der 75-Jährige. „Sie beeinflussen den Gegner und helfen der eigenen Mannschaft. Ich verspreche Ihnen: Diese Fans singen 90 Minuten. Sie unterstützen den eigenen Verein, bis es nimmer geht. Das ist schön, wenn man weiß, dass sie hinter dir stehen, auch wenn du keine Kraft mehr hast.“
Der Schulterschluss zwischen Fans hat aus dem Marakana eine Festung gemacht. In der Liga ist Roter Stern seit 121 Spielen ungeschlagen. Gegnerischen Spielern macht dabei nicht nur der Lärm auf dem Platz zu schaffen, der von den Rängen hinunter auf das Feld fließt und sich dort konzentriert, denn Die Arena wurde in den Hügel hineingebuddelt, zwölf Meter unter das Fundament des Vorgängerstadions. Es kracht auch ordentlich im Spielertunnel, mit 73 Metern einer der längsten in Europa. Der letzte Abschnitt, in dem die Teams vom Schiedsrichter in Empfang genommen werden, besteht aus Metallwänden. Auf die schlagen von den Seiten und obendrüber die Fans der Nordkurve ein.
Zwischen 12.000 und 15.000 haben dort ihre Heimat. Sie nennen sich „Delija“, harte, mutige Jungs, die nicht von Pappe sind. Ihr Ruf ist so legendär wie berüchtigt. Legendär für ihre Choreos, die Bengalo-Shows, den unerschütterlichen Support, der auch umschlagen kann, wie Stepanovic sich erinnert, als er mit seinen Kollegen mal nach einem verlorenen Europapokalspiel fünf Stunden in der Kabine verbringen musste, bis der Unmut der Fans abgekühlt war. Und berüchtigt für ihre Gewaltbereitschaft, ihre Gesinnung, ihre Verstrickungen ins kriminelle Milieu.
Ungebührlich: Uefa bestraft Roter Stern
Der harte Kern der Fans ist serbisch-nationalistisch und religiös-orthodox, sagt der österreichische Sozialwissenschaftler Dario Brentin der MZ. Der 39-Jährige ist Doktorand an der Uni Graz und forscht zur Verbindung zwischen Politik und Fußball. Brentin benennt die Verquickung von serbischem Sicherheitsapparat und gewaltbereiten Fans als Ur-Erlebnis für die Entwicklung der Fanszene von Roter Stern. Viele von ihnen kämpften im jugoslawischen Bürgerkrieg.
Die Militanz spielt bei den „Delije“, die auch in die Geschicke des Clubs eingreifen, eine besondere Rolle. So wurde vor dem Champions-League-Qualifikationsspiel gegen Young Boys Bern 2019 ein Panzer aus dem Jugoslawienkrieg vors Stadion gerollt. Zuletzt sorgten sie für Aufregung, als sie sich mit ihren orthodoxen „Brüdern aus Russland“ verbündeten und den Krieg gegen die Ukraine priesen.
Die Uefa hat den Club jüngst für das Verhalten seiner Fans bestraft und verboten, alle 55.000 Tickets für die Partie gegen RB Leipzig zu verkaufen. 5.000 Plätze müssen offiziell freibleiben. Der Atmosphäre wird das aber keinen Abbruch tun. Auf die Gäste aus Sachsen wartet im mythischen Marakana ein Abend zum Erinnern.