RB LeipzigNagelsmann Taktik-Idee: Ballbesitz als Gegenpressing-Verstärker
Julian Nagelsmann ist unerschrocken. Als ihn Vereinsmitarbeiter nach einem von RB Leipzig ausgerichteten Hüttenabend in den Tiroler Bergen ins Trainingslager-Teamhotel bringen wollten, wehrte der 31-Jährige ab. Er könne selbst die paar Hundert Meter hinabsteigen. „Habt ihr Angst, dass mich ein Bär überfällt?”, fragte er lachend in die Runde und stapfte im Trainingsanzug durch den dämmerigen Wald davon.
Zuvor hatte der neue Chefcoach des Bundesligadritten bei der mittäglichen Pressekonferenz erläutert, dass er auch taktisch eigene Pfade zu beschreiten gedenkt. Das ist ein durchaus heikles Thema bei Rasenballsport, weil diese Emanzipation Ralph Hasenhüttl vor gut einem Jahr zum Verhängnis wurde. Hasenhüttls Idee von mehr Ballbesitzspiel ging zu Lasten der defensiven Stabilität, was Ralf Rangnick in der vergangenen Spielzeit höchstpersönlich wieder korrigierte.
Nagelsmann: „Würde drei Kreuze maxchen, wenn ich auch Dritter würde“
Nun steht Julian Nagelsmann vor dem gleichen Spagat: die Dreifach-Belastung mit hohen Champions-League-Zielen auf der einen und die Implementierung von mehr Kreativität im Spiel mit dem Ball auf der anderen Seite. Doch der Bayer mit den breiten Schultern und dem breiten Gang hat dafür zum einen schlüssige Ideen. Und zum anderen moderiert er sie gut und ist sich der Tragweite des chirurgischen Eingriffs bewusst. „Ich will nicht schmälern, was hier vorher war”, sagt er behutsam. „Ich würde drei Kreuze machen, wenn ich auch wieder Dritter würde. Das sage ich ganz ehrlich. Aber es geht darum, sich weiterzuentwickeln.”
Und das soll mit diesem taktischen Masterplan gelingen. Nagelsmanns Leitsatz ist: „Meine Idee vom Spiel mit dem Ball verstärkt die Idee bei gegnerischem Ballbesitz.” Heißt übersetzt: Ballbesitzspiel soll unter dem Trainer-Jungstar nie Selbstzweck sein, sondern dient immer nur zu Vorbereitung, um eine optimale Gegenpressing-Situation zu erzeugen. Nicht viel Ballbesitz zählt, sondern qualitativ hochwertiger. „Warum ich den Ball haben will, hat drei Gründe”, führt Nagelsmann aus: „eine höhere Wahrscheinlichkeit für Torabschlüsse, das bessere Personal-Verhältnis fürs Gegenpressing und dem Gegner das Gefühl zu geben, er könne kontern, obwohl er nicht kontern kann”.
Inspiration von den besten Trainern der Welt
In den Trainingseinheiten im österreichischen Seefeld wird deutlich, was Nagelsmann meint. Wenn er ein Team mit dem Ball am Fuß von hinten herausspielen lässt, gibt er ganz konkrete Anweisungen, welcher Innenverteidiger von hinten nachschieben soll, um das Gefüge kompakt zu halten und wie sich die Stürmer zu bewegen haben, um gefährlich vor das Tor zu kommen. So will er schon im Angriff die bestmögliche Position mit möglichst viel Pressing-Personal für die Situation nach Abschluss oder bei Ballverlust kreieren.
Nagelsmann habe das bei einigen der besten Trainer der Welt studiert, sagt er. Seine Strategie, um RB spielerisch unausrechenbarer und noch wuchtiger zugleich zu machen.
Und auch für die schlauchende Champions-League-Gruppenphase mit englischen Wochen am Fließband soll die Philosophie tragen. „In Phasen der Dreifachbelastung ist es nicht verkehrt, Phasen im Spiel zu haben, den Ball selbst in den eigenen Reihen zu haben, um im Umkehrschluss die RB-DNA zu 100 Prozent aufs Feld zu kriegen”, sagt er. Nagelsmann, so viel wird deutlich, denkt immer beides mit: Defensivstabilität und Gegenpressing als Grundlage, variableres Spiel mit Ball als Element, das er verstärkt einbringt. „Wenn die Spieler das Gefühl haben, sie verlieren etwas von ihrer großen Stärke, dürfen sie schnell auf mich zukommen”, sagt er.
Nagelsmann wirbt um Geduld
Dass seine Ideen nicht ganz leicht umzusetzen sind, haben dieser Tage auch seine Spieler gemerkt. Tagtäglich versammelt er das Team vor seiner Taktiktafel, das wichtigste Utensil für den Trainer, der jede Einheit mit lautstarken Anweisungen begleitet. Zudem wird mittels einer Kamera auf einer Hebebühne sowie einer Drohne jede Einheit detailliert aufgezeichnet und ausgewertet. Nagelsmann zerlegt jede seiner vier Spielphasen in weitere Phasen und gibt seinen Kickern Videobilder zum Selbststudium mit. „Es sind kleine steps, die wir machen, aber man sieht schon ein paar, die ich reinbringen will”, lobt Nagelsmann. „Aber es müssen noch ein paar Schritte folgen. Dass wir da umswitchen können, ist ein kleiner Prozess”, so der Fußballlehrer.
Für dieses Unterfangen wirbt er um Geduld – eine Eigenschaft, die er selbst eigentlich nur vom Hörensagen kennt. „Wir brauchen uns nicht das Blaue vom Himmel zu lügen”, sagt er. „Wir werden zum Auftakt gegen Osnabrück und Union nicht die besten Spiele der kommenden Jahre machen. Aber ich habe die Geduld, weil ich weiß, wo es hinführen und wie schön und erfolgreich dieser Fußball sein kann.” Zumindest wenn ihn kein Bär überfallen hat. Denn was Nagelsmann wohl nicht wusste: Dieser Tage treibt tatsächlich ein Bär sein Unwesen im Inntal. Bereits 20 Schafe wurden gerissen, meldete die lokale Presse. Doch Nagelsmann ist unerschrocken.