Tim Sebastian über Neues Nachwuchskonzept bei RB „Ralf, das macht keinen Sinn!”
Vier Generationen von Fußballern hatten sich anlässlich einer Talkrunde zum 75. Jubiläum des Leipziger Stadtteilvereins LSV Südwest zusammengefunden, um über eines der wichtigsten Themen im Fußball zu sprechen: den Nachwuchs. Vor der charmanten Kulisse der am Rande des Volksparks Kleinzschocher gelegenen LSV-Anlage diskutierte Moderator Peer Vorderwülbecke (MDR) am vergangenen Donnerstag mit Ex-DFB-Nachwuchstrainer Frank Engel (72), Ex-Bundesligaprofi und Lok-Präsident Torsten Kracht (55), Ex-RB-Profi und RB-Nachwuchstrainer Tim Sebastian (39) und dem einstigen Leipziger Toptalent Felix Beiersdorf. Eine illustre Runde mit reichlich Sachverstand vor leider spärlichem Publikum – dafür mit umso spannenderen Aussagen.
Vor allem Tim Sebastian, der von 2010 bis 2016 für RB kickte und nach einem Psychologiestudium nun im Nachwuchs der Leipziger als Sportpsychologe und Co-Trainer der U17 tätig ist, bot interessante Einblicke in die neue Ausrichtung der Nachwuchsarbeit von Rasenballsport und scheute sich nicht, diese auch klar zu benennen.
„Was nützt es uns, wenn wir gut im Umschaltspiel sind, aber der Ball verspringt?”
Unter der Ägide von Ralf Rangnick unter dem damaligen Nachwuchsleiter Frieder Schrof war die Spielidee aus der Profiabteilung 2013 „auf alle Nachwuchsmannschaften draufgestülpt” worden. Laut Sebastian ein grundlegender Fehler. „Wenn ich heute mit ihm darüber reden würde, würde ich ihm ganz klar sagen: ,Ralf, das macht von der U8 bis zur U12 keinen Sinn!’ In der U17 und U19 sicherlich schon mehr”, argumentierte der frühere Verteidiger und begründete das auch nachvollziehbar.
Dass RB ganz nach dem Vorbild der großen Akademien des FC Barcelona und von Ajax Amsterdam nach einer spielerischen DNA von der U8 bis zu den Profis strebt, ist nachvollziehbar. Doch im Unterschied zu RB predigen diese Philosophien das Spiel mit dem Ball. Bei RB hingegen lag der Fokus in den Rangnick-Jahren auf dem Spiel gegen den Ball. Bei den Profis seien diese Elemente – Umschalten bei Ballverlust und nach Ballgewinnen – ausschlaggebend für Siege. „Aber in diesen Spielphasen trainiere ich eben keine technischen Inhalte”, mahnte Sebastian. Und die sind gerade in den Lernaltern zwischen 8 und 14 Jahren elementar.
„Was nützt es uns, wenn wir gut im Umschaltspiel und kognitiv fit sind, aber die Pille einfach nicht gut mitnehmen und der Ball verspringt? Da muss es in den unteren Jahrgängen einfach eine andere Schwerpunktsetzung geben. Und das haben wir auch gemacht. Unsere Jungs werden heute im Bereich U8 bis U12 besser ausgebildet”, so der gebürtige Leipziger. Der Fokus liege aktuell wieder viel mehr auf einem guten ersten Kontakt, guter Ballan- und mitnahme, Dribbling und Toreschießen. „Diese Spielhase hat glücklicherweise wieder deutlich mehr an Bedeutung gewonnen”, erklärte Sebastian.
„Radikaler Wechsel” bei RB
Nach dem Abschied von Rangnick und Schrof 2019 habe es „einen radikalen Wechsel, vom einen Extrem ins andere” gegeben, bewertete Sebastian. Unter Schrofs Nachfolger Sebastian Kegel stand die individuelle Ausbildung absolut im Mittelpunkt, was jedoch den Erfolg im Nachwuchs nicht mehrte. Der Kurs war nicht mehr eindeutig. Laut RBlive-Informationen war selbst einigen Nachwuchstrainern nicht mehr klar, welche Idee nun eigentlich im Fokus stehen soll und wie Talente den Sprung nach oben schaffen sollten. „Jetzt geht es wieder etwas in die andere Richtung. Ich habe die Hoffnung, dass es jetzt ein Mittelweg wird, von dem ich sehr überzeugt bin”, betonte Sebastian. Der neue Nachwuchsleiter Manuel Baum steht demnach für individuelle und technisch gute Ausbildung, ohne jedoch die klare Spielidee ab einem gewissen Alter zu vernachlässigen.
Frank Engel – 50 Jahre im Trainergeschäft – bekräftigte aus seiner Erfahrung als Co-Trainer in der Bundesliga und Nachwuchs-Nationaltrainer: „Die Basis ist für einen Einzelspieler entscheidend und nicht das Spielsystem. Ein topausgebildeter Spieler spielt in vier bis sechs Woche jedes System.”
Aktuell seien in der U17 und U19 noch grundlegende Versäumnisse zu beobachten, weiß Sebastian, der als Co-Trainer viele Übungen selbst mitmacht. Bei Rondos muss er oft die Fußhaltung beim Passspiel oder die Vororientierung etwa der Abwehrspieler auf dem Feldkorrigieren. „Diese Inhalte sollten nicht erst in U17 und U19 vermittelt werden, sondern viel früher durch Trainer, die in ihren Altersklassen Experten sind. Da sind wir auf einem guten Weg, aber es braucht jetzt ein paar Jahre, bis das zu sehen ist”, bat er um Geduld.
Diskussion über Umfeld am Cottaweg: „Müssen sich die Jungs vielleicht mehr erkämpfen?”
Und auch das Gesamtumfeld für die Jugendlichen im Nachwuchsleistungszentrum (NLZ) am Cottaweg war Thema. „Ich stelle mir schon manchmal die Frage: Sind diese Bedingungen denn eigentlich das Umfeld, die Eigenschaften wie Leistungsbereitschaft und Besessenheit hervorkitzeln oder kann das auch bremsen, indem das Gefühl aufkommt: Ich habe es ja eigentlich schon geschafft?”, hinterfragte Sebastian und antwortete selbst: „Eben nicht! Mit 16, 17, 18, 19 haben sie es eben noch nicht geschafft, dauerhaft bei den Profis zu spielen. Da hinterfragen wir uns auch: Was ist vielleicht auch zu viel? Müssen sich die Jungs vielleicht mehr erkämpfen?”
Dabei schauen die Leipziger Nachwuchsverantwortlichen auch nach Salzburg, wo viele afrikanische Jugendliche bei Lieferung und im Salzburger Nachwuchs integriert werden. So wie das unter anderem auch bei Amadou Haidara und Naby Keita der Fall war. „Diese Spieler haben keine Topbedingungen vor Ort und dennoch kommen Jahr für Jahr fußballerisch top ausgebildete Spieler nach Österreich. Da muss man schon konstatieren: Es geht ja offenbar auch anders.”
Ein NLZ ersetze nicht die „Opferbereitschaft der Jungs, die sie einfach brauchen, um Tag für Tag besser zu werden. Wir Trainer sind Begleiter, aber durch die halboffene Tür müssen die Jungs selber durchgehen”, so Sebastian.
Sebastian plädiert klar für zweite Mannschaft, Kracht dagegen
Und auch der Gedanke der Wiedereinführung einer zweiten Mannschaft wurde erörtert, um Spielern den Übergang in den Männerfußball zu ermöglichen. „Ich glaube, wir werden ab nächstem Jahr wieder eine zweite Mannschaft haben. Ich bin davon überzeugt, dass das wichtig ist”, sagte Sebastian. Er selbst habe als B-Jugendlicher zweieinhalb Jahre gebraucht, um sich in der zweiten Mannschaft von Hansa Rostock an das Tempo und die Körperlichkeit im Männerfußball zu gewöhnen.
Frankfurts Sportvorstand Markus Krösche – bis 2021 bei RB Leipzig – hatte neulich im Kicker gesagt, dass die U19 eine Basketball-Liga ohne Körperkontakt sei. Diesen Standpunkt vertritt auch Sebastian: „Es ist einfach kein Männerfußball, der da gespielt wird.” Noch immer ist es die größte Hürde im Leben eines Fußballers, den Sprung von der U19 in den Männerfuß´ball zu schaffen. „Einigen gelingt das in drei Monaten, andere brauchen zwei Jahre. Die zweite Mannschaft ist sehr wichtig, weil sich Spieler an die Körperlichkeit gewöhnen müssen und in der Regionalliga oder sogar in der 3. Liga Spielzeit bekommen”, erörterte der Jugendcoach.
Sein Sitznachbar Torsten Kracht hält hingegen wenig von U-Mannschaften in der Regionalliga. Auch dort werde kein Männerfußball gespielt und gelebt. Es sei etwas völlig anderes, sich gegen einen Endzwanziger mit Familie im Kader durchzusetzen als gegen einen Kumpel, den man schon seit zehn Jahren aus dem Internat kenne. Und sicher spielt dabei auch eine Rolle, dass Lok in der Regionalliga wenig Interesse daran hat, gegen die „Bubi”-Teams anzutreten – und dann auch noch vom bei den Fans ungeliebten Nachbarn RB.
„Verpflichtende Aufgaben”: Ajax-Modell bei Lok
Die Diskussion jedoch kam erfreulicherweise völlig ohne Sticheleien und Ressentiments unter den Konkurrenzen in der Stadt aus und war dennoch inhaltlich stets prägnant. So kündigte Kracht an, dass Lok Nachwuchsarbeit künftig nach dem Ajax-Vorbild betreiben wolle. „Unabhängig davon, wie gerade der Cheftrainer heißt, wollen wir verpflichtende Aufgaben als Verein festlegen”, so Kracht.
„Es wird schriftlich festgehalten und bleibt in der DNA stehen, dass jedes Jahr zwei Spieler aus der A-Jugend in die erste Mannschaft übernommen werden müssen. Oder mindestens vier Jugendspieler mindestens 20 Trainingseinheiten bei der ersten Mannschaft absolvieren müssen!” Das locke möglicherweise auch neue Talente zu Lok, da sie so bessere Aufstiegschancen in die erste Mannschaft haben. Durchaus ein spannender Gedanke. Auch vom Lokalrivalen lassen sich schließlich gute Ideen abschauen.
Warum der erste RB-U-Nationalspieler Felix Beiersdorf trotz Profivertrags nicht im Profifußball landete, sondern erst beim LSV Südwest im Amateurfußball im Männerbereich ankam, lesen Sie im zweiten Teil des Beitrags in den kommenden Tagen bei RBlive.