RB Leipzig"Die Spieler sind keine Maschinen": Perry Bräutigam über RB Leipzigs Saisonstart, Jesse Marsch, Julian Nagelsmann und Kritik an Ralf Rangnick
Perry Bräutigam ist ein echtes RB-Leipzig-Urgestein. Seit der Gründung 2009 ist der gebürtige Altenburger beim Fußball-Bundesligisten angestellt. Erst als Torwarttrainer, dann als Torwart-Scout, inzwischen als Club-Repräsentant. Der frühere Erst- und Zweitliga-Schlussmann (Motor Altenburg, Carl Zeiss Jena, Hansa Rostock, 1. FC Nürnberg) und dreifache DDR-Nationalspieler beendete 2002 seine aktive Karriere.
Im Interview mit RBlive/Mitteldeutsche Zeitung sprach der 58-Jährige über die sportliche Situation beim Tabellenachten der Fußball-Bundesliga, über den personellen Umbruch unter dem neuen RB-Coach Jesse Marsch und seine Kritik an Ex-RB-Sportdirektor Ralf Rangnick, der jüngst behauptet hatte, unter seine Führung hätte er Julian Nagelsmann keine Freigabe für einen Transfer zum FC Bayern erteilt.
Bräutigam über RB Leipzigs Saisonstart: "Ich bin nicht beunruhigt"
Wie kann man sich eine Arbeitswoche als RB-Repräsentant vorstellen?
Perry Bräutigam: Ich übernehme viele repräsentative Aufgaben des Vereins: Auftritte und Events, wie zum Beispiel kürzlich die Vorstellung des Leipziger UEFA-Logos für die EM 2024 auf dem Augustusplatz. Dazu betreue ich diverse Vereinsprojekte und fahre fast jeden Tag in ein anderes RB Leipzig-Fußballcamp, um mit Kindern zu trainieren. Es macht viel Spaß, das sind ja unsere Fans von morgen.
Zur aktuellen sportlichen Lage: Wo sehen Sie die Ursachen für den holprigen Saisonauftakt?
Ich bin nicht beunruhigt. Aus den letzten drei Bundesligaspielen haben wir sieben Punkte geholt und zehn Tore geschossen. Klar ist: Wir haben einen neuen Trainer verpflichtet und wir haben ein neues Team rund um die Mannschaft herum aufgebaut. Das bedeutet auch für Spieler neues Vertrauen zu gewinnen, das sich mit der Zeit immer weiter aufbaut. Außerdem hatten wir auf der einen Seite einen personellen Umbruch mit den Abgängen von Dayot Upamecano, Ibrahima Konaté und Marcel Sabitzer und auf der anderen Seite wurden neue, teilweise sehr junge Spieler geholt. Ich bin mir aber sicher, dass die sich genauso gut entwickeln werden.
Welche Schuld trifft Jesse Marsch am mittelmäßigen Auftakt?
Das Wort „Schuld“ würde ich hier gar nicht erwähnen. Wie ich schon gesagt habe. Ein großer, personeller Umbruch braucht ein wenig Zeit. Demzufolge war es erwartbar, dass es vielleicht holprig losgehen kann. Aber nehmen Sie Christopher Nkunku...
...den Topscorer von RB und den einzigen Spieler, der bisher einen sichtbaren Entwicklungssprung gemacht hat.
Genau. Er hat diesmal die komplette Vorbereitung absolviert und spielt eine super Saison. Deswegen bin ich von unserem Trainer so überzeugt, weil er den Jungen in der Kürze der Zeit schon so weit entwickelt hat. Wenn die anderen auch die Möglichkeit haben, so intensiv in der Gruppe mit allen zu trainieren, dann werden sie auch so einen Schub kriegen.
"Immer einfach zu sagen, Jesse hätte mehr Elemente von seinem Vorgänger übernehmen sollen"
Lothar Matthäus sagte kürzlich, er finde bei Julian Nagelsmann gut, dass er beim FC Bayern nicht so viel geändert hat, weil die Mannschaft ja schon vorher funktioniert hat. Wollte Jesse Marsch bei RB vielleicht zu viel ändern?
Die Bayern haben David Alaba verloren, ansonsten ist der Kader anders als bei uns fast gleichgeblieben. Ohne die Europameisterschaft hättest du gewisse Mechanismen, die du einfach brauchst in so einem Umbruch, und Jesses Philosophie noch etwas besser einstudieren können. Es ist danach immer einfach zu sagen, Jesse hätte mehr Elemente von seinem Vorgänger übernehmen sollen. Wir haben ihn ja auch deswegen verpflichtet, weil er einen etwas anderen Ansatz verfolgt.
Marsch hat gesagt, es sei vielleicht in der Breite der beste Kader der Vereinsgeschichte. Von daher passt das ja dann nicht so richtig zu den Ergebnissen.
Das ist er meiner Meinung nach auch. Es ging dem Trainer mit dieser Aussage darum, den Jungs zu zeigen, was sie erreichen können, was mit ihrer individuellen Klasse möglich ist. Aber klar ist auch: Der Trainer und das Trainerteam werden noch an ein paar Stellschrauben drehen.
Vertrauen in Neuzugänge Mohamed Simakan und Josko Gvardiol
Wie sind die teilweise wilden Vorstellungen in der Defensive zu erklären?
Das hat jedenfalls nichts mit Dreier- oder Viererkette zu tun. Wir haben mit Ibrahima Konaté und Dayot Upamecano zwei saustarke Innenverteidiger verloren. Wenn ich an Upa denke, der musste in seiner Anfangszeit manchmal ausgewechselt werden, weil er vor einer roten Karte stand. Da wurde auch mal ein Fehler gemacht. Es hat einfach seine Zeit gedauert, bis er zu diesem Spieler geworden ist, der er heute ist. Die Neuzugänge Mohamed Simakan und Josko Gvardiol werden mit ihren Qualitäten ähnliche Wege einschlagen. Da bin ich mir sicher.
Bei den Fans kam angesichts der Ergebnisse schon Unruhe auf. Verständlicherweise?
Natürlich haben unsere Spieler und unser Verein die Fans in den letzten Jahren in jeder Hinsicht verwöhnt. Es ging nur nach oben. Aber die Spieler sind auch keine Maschinen, die du einfach hinstellst und die dann jedes System sofort super verinnerlichen. Auch ich habe früher Fehler gemacht. Fehler waren wichtig, um daraus zu lernen. Wie gesagt: Wir haben eine tolle Mannschaft und ich glaube fest daran, dass wir unsere Ziele erreichen.
Wie bewerten Sie die Leistung in der Liga bislang?
Gegen Wolfsburg und Bayern haben wir mit allen Trainern schon mal verloren. Das kann passieren. Was wehtut, ist diese Auftaktniederlage gegen Mainz. Wenn wir diese drei Punkte geholt hätten, wären wir zum Beispiel nur drei Zähler hinter Bayern.
"Überzeugt, dass wir die Champions-League-Qualifikation schaffen"
Muss sich RB schon von der Meisterschaft verabschieden?
Ich bin überzeugt davon, dass wir die Champions-League-Qualifikation schaffen. Dieses Ziel wollen wir auf alle Fälle erreichen. Und solange gewisse Dinge rechnerisch möglich sind, so lange geben die Jungs natürlich Gas, ist doch klar. Das schließt auch die ersten vier Tabellenplätze nicht aus. Was ich mir wünsche, ist, dass wir jetzt eine Konstanz reinbringen.
Kann sich das Team das Champion-League-Achtelfinale nach zwei Auftaktpleiten und zwei anstehenden Spielen gegen PSG abschreiben?
Warum denn? Warum sollen wir gegen Paris nicht Punkte holen? Warum sollen wir gegen die nicht auch gewinnen? Und warum sollen wir in Brügge nicht auch was holen?
Ralf Rangnick sagte kürzlich bei DAZN, er hätte Julian Nagelsmann anders als RB-Geschäftsführer Oliver Mintzlaff niemals zum FC Bayern gehen lassen. Sie haben sich nach seinen Äußerungen enttäuscht gezeigt. Warum?
In allererster Linie war ich traurig drüber, weil das kein guter Stil war und weil ich das von Ralf auch so nicht erwartet hätte. Ralf hat stolze sieben, acht Jahre in diesem Verein gearbeitet und ihn sportlich hervorragend geführt. Das betont Oliver Mintzlaff auch immer wieder.
Bräutigam über Julian Nagelsmann: „Was würde es bringen, wenn er mit dem Herzen vielleicht nicht mehr zu 100 Prozent dabei wäre?”
Bei anderen Klubs gibt es auch immer mal wieder einen Ex, der das Geschehen kommentiert, auch kritisch kommentiert. Was ist so schlimm daran, dass Rangnick seine Meinung gesagt hat?
Natürlich kann er seine Meinung sagen. Auch ich bin früher nicht immer mit dem Strom gegangen. Aber ich mag es eben nicht, wenn man sich in so einer Phase in dieser Form äußert.
Aber hat Ralf Rangnick nicht recht? War es nicht ein Fehler, den vielleicht besten deutschen Trainer zum größten Konkurrenten gehen zu lassen?
Gegenfrage: Was würde es bringen, wenn er mit dem Herzen und mit der Leidenschaft vielleicht nicht mehr zu 100 Prozent dabei wäre, weil er vielleicht andere Ziele und andere Träume hat? Julian wollte gerne zu den Bayern, daraus hat er auch nie einen Hehl gemacht. Diesem Wunsch hat der Verein entsprochen. Wir haben mit Jesse jetzt einen tollen neuen Trainer und ich bin mir sicher, dass wir in Zukunft mit ihm viele Erfolge feiern werden
Erfolge bringen Ruhe. Ist das Gastspiel beim SC Freiburg am Samstag angesichts der Tabellenkonstellation ein Pflichtsieg?
Das könnte jedenfalls so ein bisschen ein richtungsweisendes Spiel sein. Gewinnst du das, bist du schon wieder mit oben dabei. Noch ist in der Bundesliga alles sehr eng beieinander.